Jetzt ist die Zeit für gemeinwohlorientierte digitale Ökosysteme

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03.04.2020
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Seit Corona leben und arbeiten wir anders. Plattformen und Tools ersetzen physische Nähe, sei es im Beruf oder privat. Mehr denn je brauchen wir daher gemeinwohlorientierte digitale Ökosysteme. Doch gerade diese sind existenziell bedroht.

Seit Corona sind wir alle noch viel mehr als zuvor auf digitale Lösungen zum Austausch und zur Zusammenarbeit angewiesen. Was früher unbedingt ein persönliches Treffen sein musste, ist nun doch eine E-Mail oder ein Videochat. Ganze Organisationen, die zuvor digital „schlecht aufgestellt“ waren, müssen neue Tools und Arbeitsweisen im Schnelldurchlauf erlernen. Auf das externe Zoom-Meeting folgt die interne Microsoft-Teams-Konferenz und in einigen Familien lesen die Großeltern ihren Enkelkindern per WhatsApp-Videocall vor. 

Chance und Katastrophe: Digitalkonzerne und Zivilgesellschaft 

Das ist eine große Chance für digitale Kommunikation, für Gemeinschaft jenseits von Präsenz – und entsprechend erhalten die großen Digitalkonzerne massiven Zulauf: an Nutzern, an Einnahmen, an (persönlichen) Daten. Für die digitale Zivilgesellschaft dagegen ist es eine Katastrophe. Ihre nichtkommerziellen und offenen Angebote an Plattformen und Tools beruhen schon immer zu weiten Teilen auf ehrenamtlichem Engagement und Spenden. Beides bricht ihnen in großem Umfang weg, Rettungsschirme sind nicht in Sicht. 

Eine Reihe an Organisationen der digitalen Zivilgesellschaft, darunter die Freifunker, der Chaos Computer Club, die Digitale Gesellschaft, die Open Knowledge Foundation und Wikimedia, haben sich daher unter der Initiative des Superrr Labs zu einem Aufruf zusammengeschlossen.

Sie fordern darin, „endlich politische Priorität für den Aufbau gemeinwohlorientierter digitaler Ökosysteme“ – und sie haben recht. Sichere Software und dezentrale Plattformen, die unsere Grundrechte ernst nehmen und zugleich frei und offen allen zur Verfügung stehen, sind kritische Teile der Infrastruktur unserer Zivilgesellschaft. Ohne sie können wir nur darauf hoffen, dass Google und Facebook unser aller Privatsphäre und Wohlergehen schätzen und schützen. Mit ihnen garantieren wir das Selbst. Gemeinwohlorientierte digitale Ökosysteme bieten freies Wissen und freien Zugang, aus ihnen lässt sich lernen, auf sie lässt sich aufbauen. Sie sind die Grundlage sicherer und engagierter Zivilgesellschaften im digitalen Zeitalter. Ein konkreter Vorschlag der Initiative, eine „vom Bund geförderte Stiftung öffentlichen Rechts, die Entwicklung, Wartung und Bereitstellung digitaler Technologien für die Gesellschaft fördert“, ist daher so naheliegend wie bisher ungehört. Wir sollten die Initiative und ihre Forderungen unterstützen. 

Was Stiftungen tun können 

Wir sollten aber nicht nur die (politischen) Forderungen unterstützen, sondern als Stiftungen überlegen, welchen Teil wir selbst zum Aufbau gemeinwohlorientierter digitaler Ökosysteme beitragen können. Der erste Schritt ist einfach, er besteht allein aus einer Beobachtung: Es existiert ein Machtgefälle zwischen Digitalkonzernen und freien digitalen Ökosystemen, klar zu Ungunsten der gemeinwohlorientierten Alternativen. Wir kennen solche Ungleichgewichte aus anderen Bereichen. Nirgends sind solche Macht- und Marktmonopole geeignet, alle Teile der Gesellschaft zu befördern, insbesondere nicht jene, die am meisten auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind. Aus diesem Grund haben wir Krankenversicherungen und die Grundsicherung, aus diesem Grund sind wir als Stiftungen vor allem dort aktiv, wo Ungleichheiten an Zugang, Chancen und Wissen bestehen. 

Wir können und sollten den gemeinwohlorientierten Alternativen eine echte Chance geben, damit sie das belastbare und resiliente Fundament bilden können für eine moderne, diverse und partizipative, ja selbst gestaltende Zivilgesellschaft im digitalen Zeitalter. Der Aufbau und die Unterstützung gemeinwohlorientierter digitaler Ökosysteme ist mithin nicht nur ein Thema für Technologiestiftungen, nicht nur ein Förderhäkchen in anderen Portfolios, es ist, für alle, ein Element transformativer Philanthropie, also der dauerhaften externen und internen Veränderung. Das können wir Schritt für Schritt erreichen, indem wir als einflussreiche Organisationen auf diejenigen technologischen Möglichkeiten setzen, die am Ende allen helfen. Im selben Sinne, wie wir auch (hoffentlich) nicht den billigsten Caterer auswählen, nicht prohibitive Gebühren für unsere Veranstaltungen erheben, nicht unsere eigenen Mitarbeiter*innen ausbeuten und nicht unsere eigene CO²-Bilanz ignorieren. Hier überall haben wir angefangen oder bereits gelernt, unsere Ziele in der Art unseres Arbeitens ernst zu nehmen und zu leben, genauso können wir das im Bereich der Technologien tun. 

Wir können Open Source und die dahinterstehenden Organisationen unterstützen und entsprechende vertrauenswürdige, offene, gar kostenlose Lösungen und Tools untereinander und mit zivilgesellschaftlichen Organisationen teilen. Jede Neuentwicklung, jede Verbesserung und Erweiterung steht allen zur Verfügung. Im besten Falle sind unsere Förderungen als Stiftungen nie „nur“ Förderungen, es sind Investitionen in Veränderung. Hier sind es Investitionen mit Weitblick in Strukturen, die nicht nur der digitalen, sondern der gesamten Zivilgesellschaft dienen. Ganz nebenbei schaffen wir uns so die Möglichkeit, weit über unsere jeweils eigenen Themenfelder hinaus zu wirken. Denn egal auf welchem Feld wir uns engagieren, es bieten sich überall Möglichkeiten der Kooperation mit der digitalen Zivilgesellschaft oder der Nutzung von offenen technologischen Alternativen. Wir erreichen unsere genuinen Ziele besser, zugleich stärkt unser Engagement ein ganzes verzweigtes Ökosystem aus Ansätzen, Lösungen und Tools. 

Es gibt sie, diese gemeinwohlorientierten Alternativen, und sie funktionieren. Bedenkt man, dass sie oft in rein ehrenamtlicher Arbeit entstehen, ist diese Leistung kaum groß genug zu würdigen. Aber wenn nicht einmal wir sie nutzen und unterstützen, wie sollen sie dann weiter gedeihen? Wir stellen uns als Stiftungen regelmäßig der Verantwortung, die aus unserer Position in der Gesellschaft erwächst. Wir können und müssen das auch im Bereich der Technologie und digitaler Zivilgesellschaft tun. Wir können - ganz abseits von konkreten Tools - einen Teil zivilgesellschaftliche Infrastruktur stärken, der allen zugutekommt: uns selbst und unseren aktuellen und zukünftigen Förderpartner*innen genauso wie der Gesamtgesellschaft. So wie wir auch unsere sonstigen Aktivitäten, sei es nun in Bildung, in Kultur, im Sport, im Kampf gegen Diskriminierung oder andernorts, nicht isoliert betrachten, sondern als systemisches Wirken. Wir haben hier eine Chance. Nutzen wir sie. 

Stiftungen und digitales Gemeinwohl

Klar und deutlich zeigt sich mit Corona die Bedeutung von digitalen Infrastrukturen jenseits von Google und Microsoft. Erst unabhängige und belastbare Strukturen ermöglichen allen Menschen und Organisationen echte Teilhabe, sichere Kommunikation und freies Wissen. Sie sind die Grundlage engagierter Zivilgesellschaften im digitalen Zeitalter. Diese gemeinwohlorientierten digitalen Ökosysteme, meist allein durch ehrenamtliches Engagement getragen, brauchen unsere Unterstützung um nachhaltig wachsen zu können. Was können Stiftungen beitragen?

Einladung zu einem offenen Austausch


In einem 60-minütigen Call wollen wir diskutieren:

  • Digitalisierung als Frage von Partizipation, Macht und Gerechtigkeit (Martin Modlinger, Stiftung Erneuerbare Freiheit)
  • Freie und Open-Source-Anwendungen als Hebel für das Gemeinwohl (Alexander Sander, Free Software Foundation Europe)
  • Die Lage des gemeinwohlorientierten digitalen Ökosystems + Unterstützungsmöglichkeiten (Elisa Lindinger, Superrr Lab)

Vertreter*innen der digitalen Zivilgesellschaft führen uns durch Bedarfe, Chancen und Lösungen zum Wohle aller.

Anmeldung unter steph.klinkenborg[at]dreilinden[punkt]org. Sie erhalten dann den Link zur Videokonferenz.

Über den Autor

Dr. Martin Modlinger ist Vorstand der Stiftung Erneuerbare Freiheit.

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