„Heteronormativität ist tief in der Gesellschaft verankert“

Geschlechtergerechtigkeit
© Illustration: Kate – stock.adobe.com
13.11.2019
Geschlechtergerechtigkeit
Zurück zur Übersicht

Gesellschaftliche Normen bestimmen, welche Formen von Sexualität und Geschlechtsidentitäten als „normal“ gelten. Mit Prof. Dr. Robin Bauer von der Hannchen Mehrzweck Stiftung sprachen wir über diese Normen und Menschen, die sie unterlaufen.

© Robin Bauer

Laut Ihrem Leitbild möchte die Hannchen Mehrzweck Stiftung „Heteronormativität“ kritisch hinterfragen. Können Sie uns erklären, was genau mit Heteronormativität gemeint ist und warum diese Ihrer Meinung nach kritisch hinterfragt werden muss?
RB: Der Begriff Heteronormativität geht auf den US-amerikanischen Soziologen Michael Warner zurück, der damit zwei miteinander verknüpfte gesellschaftliche Normen thematisiert hat. Erstens geht nach seiner Analyse die Gesellschaft davon aus, dass es nur zwei Geschlechter gebe. Zweitens versteht eine heteronormative Gesellschaft die Heterosexualität als die normale, natürliche, gar einzig legitime und wertvolle Art von sexueller Beziehung und Liebesbeziehungen. Menschen, die nicht heterosexuell und nicht Mann oder Frau sind, werden einfach nicht mitgedacht und unsichtbar gemacht. Zum einen schadet die Heteronormativität also Personen, die diesen Normen nicht entsprechen, da sie tendenziell ausgeschlossen werden. Zum anderen schadet die Heteronormativität aber letztlich allen Menschen, da sie stark normierend wirkt, also z.B. vorgibt, wie „echte“ Männer und Frauen zu sein haben.  Somit schränkt sie schon von klein auf die Möglichkeiten der eigenen Persönlichkeitsentwicklung für uns alle ein. 

Ihre Stiftung fördert Projekte von „Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transmenschen, Intersexuellen und Queers“. In einem vorhergegangenen Interview hatten Sie uns bereits über Intersexualität aufgeklärt. Könnten Sie uns noch erklären, was Transmenschen sind? 
RB: Transmenschen sind Menschen, die sich nicht oder nicht vollständig mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren. Bei manchen Transmenschen geht das mit dem Wunsch einher, den Körper durch medizinische Mittel (Hormone, Operationen) dem gefühlten Geschlecht anzugleichen. Dann spricht man klassisch von Transsexualität. Manche Transmenschen leben jedoch auch ohne solche körperlichen Veränderungen ein anderes Geschlecht. 

Und was wird als „queer“ verstanden?
RB: „Queer“ hat verschiedene Bedeutungen. Manchmal wird es als Dachbegriff für alle Personen verwendet, die nicht der Heteronormativität entsprechen, die also nicht heterosexuell leben und/oder inter- oder transgeschlechtlich sind. Das frühere Schimpfwort queer wurde sich von Aktivist_innen in den USA der 1990er Jahre als Begriff angeeignet. Er soll sich gegen die Einteilung von Menschen in homo-/heterosexuell sowie Mann/Frau wenden. Queer kann somit eine politische Identität sein, die sich gegen die heteronormativen Kategorien wendet, die als unzulänglich und die Menschlichkeit einschränkend kritisiert werden. Es kann auch den Versuch darstellen, eine passende Selbstbezeichnung für die eigenen gelebten Praxen und Identitäten zu finden, wenn man sich in den üblichen Kategorien homo/hetero und Mann/Frau eben nicht wiederfindet. Somit versucht die queere Bewegung die Grundlagen der Heteronormativität zu überwinden. 

Seit dem 1. Oktober 2017 dürfen Homosexuelle in Deutschland zivilrechtlich heiraten. Für viele ist damit die Gleichstellung von Homosexuellen erreicht. Was würde wohl der Stifter und Namensgeber der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung, Andreas Meyer-Hanno, zu einer solchen Meinung sagen?
RB: Andreas Meyer-Hanno hatte ja auch einen Tuntennamen, Hannchen Mehrzweck, nach dem er die Stiftung benannt hat. Die Tunte war von Beginn an eine politische Identität, die das, was wir heute als Heteronormativität bezeichnen, infrage stellen sollte. Meyer-Hanno war zu Lebzeiten ein Gegner der sogenannten „Homo-Ehe“, weil sie für ihn und viele andere eine Anpassung an die heterosexuellen Normen und Werte der Gesellschaft darstellte und eben nicht eine echte Emanzipation, also Befreiung von diesen heteronormativen Vorstellungen. Die Heteronormativität ist tief in der Gesellschaft verankert und deshalb wird die Stiftung ihre Arbeit zur Aufklärung und gesellschaftlichen Veränderung durch Bildungsprojekte auch weiterhin engagiert betreiben und sich dabei im Sinne des Stifters immer den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit stellen.

Mehr vom Interviewpartner

Mit Prof. Dr. Robin Bauer sprachen wir auch über Intersexualität in unserer Gesellschaft und das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Über den Interviewpartner

Prof. Dr. Robin Bauer ist seit 2019 ewiges Mitglied des Beirats der hms. Er ist Professor für Theorien der Diversität und Wissenschaftstheorien an der Fakultät Sozialwesen der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart. Schwerpunkte in Forschung, Lehre und zivilgesellschaftlichem Engagement sind Queere & Transgender Theorie und Politik, sexuelle Vielfalt, Sexualpädagogik der Vielfalt und Naturwissenschaftskritik.

Über die Hannchen Mehrzweck Stiftung

Die Hannchen Mehrzweck Stiftung ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Berlin. Das Ziel Stiftung liegt darin, das Selbst­bewusst­sein, die Emanzi­pation und die Handlungs­spiel­räume von Lesben und Schwulen in der Gesell­schaft zu stärken. Dies geschieht vor allem durch Förde­rung von lesbi­schen und schwulen Projekten. 

www.hms-stiftung.de 

Aktuelle Beiträge
Unsere Demokratie

„Wir haben uns etwas sagen zu lassen“

Als im Mai dieses Jahres der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten getötet wurde, erklärte sich das Stadtmuseum Berlin als eine von wenigen Stiftungen in Deutschland offen solidarisch mit der weltweit aufkommenden #BlackLivesMatter-Bewegung. Im Gespräch erklären Direktor Paul Spies und Diversitäts-Agentin Idil Efe, wie sie ihr eigenes Haus bunter machen wollen.

Mehr
Stiftungsrecht

Virtuelle Sitzungen auch ohne Sonderregelung? Hinweise zur aktuellen Rechtslage

Zum 31. August 2022 endet die Corona-Sonderregung für digitale Organsitzungen. Was plant der Gesetzgeber? Was sollten Stiftungen nun beachten? Ein Überblick. 

Mehr
Impuls

"Zum Wohle der Witwen und Waisen" – neu interpretiert

Fünf soziale Einrichtungen, darunter einen Seniorentreff, unterhält die Koepjohann’sche Stiftung. In der DDR hatte der Berliner Stiftung, die in diesem Jahr 230 Jahre alt wird, noch das Aus gedroht. Ein Gespräch mit den ehemaligen und amtierenden Kuratoriumsvorsitzenden der Stiftung über die ewige Angst vor Enteignung und die Neuerfindung der Stiftung nach dem Mauerfall. 

Mehr

Mehr zum Thema

Geschlechtergerechtigkeit

Die Kraft der Frauen

Auch zum 100. Jubiläum des internationalen Frauentages gibt es in Sachen Gleichberechtigung noch viel zu tun. Nur langsam ändern sich Jahrhunderte alte Gesellschaftsstrukturen von Machtverteilung und Diskriminierung. Wie es gehen kann, zeigt die erfolgreiche Arbeit der Vicente Ferrer Stiftung zur Stärkung der Frauen im ländlichen Indien.

Mehr
Geschlechtergerechtigkeit

Philanthropie ist ein feministisches Thema

Soll es voran gehen mit der Menschheit, müssen die Stimmen von Frauen durch philanthropische Mittel unterstützt werden, ihre Wahlmöglichkeiten, Partizipation, Bildung und Existenzgrundlagen.

Mehr
Geschlechtergerechtigkeit

Klimawandel ist nicht genderneutral

Frauen sind weltweit in höherem Maße von den negativen Auswirkungen des Klimawandels sowie vom Raubbau an der Natur betroffen. Ein feministischer Ansatz, der vor Ort verwurzelt ist, kann eine machtvolle Quelle für Umweltschutz und Geschlechtergerechtigkeit zugleich sein. 

Mehr