„Wir haben uns etwas sagen zu lassen“

Idil Efe
Unsere Demokratie
© Detlev Eden
04.12.2020
Unsere Demokratie
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Als im Mai dieses Jahres der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten getötet wurde, erklärte sich das Stadtmuseum Berlin als eine von wenigen Stiftungen in Deutschland offen solidarisch mit der weltweit aufkommenden #BlackLivesMatter-Bewegung. Im Gespräch erklären Direktor Paul Spies und Diversitäts-Agentin Idil Efe, wie sie ihr eigenes Haus bunter machen wollen.

Stiftungswelt: Herr Spies, Frau Efe, das Corona-­Virus hat auch Ihre Museen getroffen. Wie erleben Sie diese Zeit?
Paul Spies:
 Ich hatte Corona, als Erster und einziger bei uns. Und ich finde, als Direktor sollte man das auch mal gehabt haben. (lacht) Ich war im Februar mit meiner Familie in Norditalien zum Skifahren. Vermutlich haben wir es von dort mitgeschleppt. Ich hatte aber nur leichtes Fieber und konnte in der Quarantäne weiterarbeiten, das war kein Problem. Wir als Museum haben den Lockdown natürlich als frustrierend erfahren, weil wir unsere Häuser schließen mussten. Dadurch konnten wir unseren Zweck nicht verfolgen; zudem blieben die Einnahmen aus. Deshalb werden wir am Ende des Jahres auch ein Defizit haben. Auch für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es eine schwierige Zeit. Wir sind eben kein supermodernes Institut, wenn es um IT geht. Es fehlen einfach die Mittel, um beispielsweise mobiles Arbeiten zu ermöglichen. Auch die Arbeitsumstände zu Hause sind natürlich sehr unterschiedlich.

Idil Efe: Ich habe einen Sohn, der aufgrund der Schulschließungen eine Zeit lang zu Hause bleiben und dort unterrichtet werden musste. Dadurch hatte ich deutlich mehr zu tun als sonst. Das war tatsächlich anstrengend. Für mich war die Zeit insofern interessant, als dass Dinge aufgewirbelt wurden und man gerade dadurch auf neue Ideen kam. Wir haben einige Sachen gemacht, die jetzt wirklich anders und neu sind und auf denen wir weiter aufbauen können.

Ende Mai dieses Jahres wurde der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis von einem Polizisten brutal ermordet. Mit der daraufhin aufkommenden #BlackLivesMatter-Bewegung (BLM) haben sich sogar Fitnessstudios oder Tanzvereine offen solidarisch erklärt. Sie sind diesen Schritt als eine von wenigen Stiftungen gegangen. Wie kam es dazu?
Spies: 
Als ich von dem Vorfall erfahren habe, dachte ich: Dazu müssen wir uns so schnell wie möglich im Netz äußern. Vor einem Jahr haben wir öffentlich bekannt gegeben, dass wir diversitätsorientiert und vielfältig sein möchten. So etwas kann man nicht behaupten und dann nicht handeln, wenn plötzlich etwas so Gravierendes passiert. Das heißt nicht, dass ich mit allem zufrieden bin, was aufseiten der Bewegung passiert, aber zumindest eine solidarische Haltung finde ich für ein Geschichtsmuseum sehr wichtig. Wir möchten politisch sein.

Efe: Ich fand es toll, dass Paul das sozusagen angewiesen hat. Bei vielen Institutionen wäre das wahrscheinlich schwierig, wenn eine solche Aktion nicht von oberster Stelle unterstützt wird. Insofern war es ein sehr gutes Signal ins Haus, dass das ein Wunsch von Paul war. So konnten wir schnell handeln. Dazu muss man wissen, dass es in der Belegschaft eine große Unsicherheit darüber gibt, wie wir mit solchen Themen umgehen. Als zum Beispiel die Morde in Hanau stattfanden, habe ich mir gewünscht, dass wir zumindest unser Beileid bekunden. Das war intern im ersten Moment wirklich schwierig. Paul war gerade im Urlaub, ihn konnten wir nicht ansprechen.

Wie ist es ausgegangen?
Efe:
 Wir haben es gemacht. Das erste Mal in der Geschichte des Stadtmuseums wurde eine Beileidsbekundung ausgesprochen. Die Resonanz war zwar nicht so groß wie bei Black Lives Matter, aber für uns als Museum war es sehr wichtig. Damals haben wir uns dazu entschlossen, dass wir bei solchen Themen nicht mehr still bleiben. Durch diesen Präzedenzfall wird es in Zukunft leichter werden, uns an bestimmten Stellen öffentlich zu äußern und uns solidarisch oder unsolidarisch oder wie auch immer zu zeigen. Natürlich in Absprache, aber es braucht diese Basisdiskussion nicht mehr.

Idil Efe und Paul Spies
© Detlef Eden
Idil Efe und Paul Spies vor dem zum Zeitpunkt des Gesprächs geschlossenen Ephraim-Palais. Der Schriftzug über dem Eingang lautete „Kurz Schluss“.

Worum ging es Ihnen bei der aktuellen Solidaritätsbekundung?
Spies: 
Der Text ist sehr auf uns selbst bezogen. Wir versuchen nicht, wie ein Pfarrer zu predigen, wie sich die Welt benehmen soll, nein, wir sprechen darüber, was wir selbst mit Blick auf dieses Thema tun. Es ist eigentlich eine Selbstreflexion und keine Lehre. Idil, du hast eine wichtige Rolle gespielt beim Erstellen des Textes. Wie war das für dich?

Efe: Mir war es wichtig, dieses selbstreflexive Moment dabei zu haben. Wir als Museum repräsentieren Geschichte nicht nur, sondern wir konstruieren diese mit. Und wenn wir nicht kritisch, etwa mit dem kolonialen Erbe, umgehen, reproduzieren wir sie. Black Lives Matter Berlin beispielsweise fordert ja genau das von den Institutionen. Deshalb reichte es nicht zu sagen, es tut uns leid. Sondern: Was sind wir selbst bereit zu tun? Diese Selbstkritik ist wichtig. Es gibt kein Außerhalb dieses Themas.

Weltweit wurden im Zuge der BLM-Proteste Denkmäler und Statuen beschädigt und vom Sockel geholt – und an ihrer Stelle sogar neue Statuen aufgestellt. In Bristol etwa wurde die Figur des dort geborenen Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken geworfen und durch eine Statue der schwarzen Aktivistin Jen Reid ersetzt. Wie stehen Sie dazu?
Spies:
 Grundsätzlich fand ich diese Situation sehr spannend. Bevor ich über Statuen, Werte und Kunst und so weiter nachdenke, denke ich: Wie interessant, endlich passiert mal etwas. Und ich glaube, es geht auch nicht mehr weg. In den Siebzigerjahren war es schon einmal da, in den Achtzigerjahren auch, aber das hier ist etwas Neues. Das war meine erste Reaktion. Seien wir mal ehrlich, die Colston-Statue hat durch die Aktion gewonnen, vorher hatte sie doch niemand beachtet. Häufig wird Kunst im öffentlichen Raum ja nicht einmal bemerkt. Übrigens finden wir auch bei griechischen oder römischen Statuen Beschädigungen ganz nett. So eine Nike ohne Kopf oder Arme ist schöner als eine mit. Deshalb bin ich auf meinen Kollegen in Bristol etwas neidisch, er hat die Statue nämlich bekommen. Ich hätte sie auch gern in Berlin gehabt. Die Frage ist: Machen wir das jetzt mit allen Statuen? Natürlich nicht, das wäre völlig blöd. Die Aussage ist gemacht: Wir müssen kritisch damit umgehen, was im öffentlichen Raum an Geschichten erzählt wird und was vielleicht nicht erzählt wird, aber trotzdem da ist.

Ist die Aussage auch in Deutschland schon gemacht? Eine Statue wurde hier noch nicht versenkt.
Spies: 
Nein. Das finde ich auch erwachsen, dass es nicht passiert ist. Das hat Bristol jetzt gemacht, lasst Bristol bitte diese Ehre. Aber wir betrachten unsere eigenen Statuen in der Stadt doch noch einmal neu. Mit unserem Modellprojekt „Dekoloniale – Erinnerungskultur in der Stadt“ werden wir uns das ganz präzise anschauen: Wo wird Kolumbus gefeiert, wo wird eigentlich Afrika abgebildet und wo gibt es noch andere Thematiken, die auch ausgrenzen oder herabsetzen? Zum Beispiel halb pornografische Nacktdarstellungen in Kirchen usw. Aber bitte: Lasst diese Dinge stehen! Wenn man sie wegnimmt, kann man nicht mehr darüber reden. Damnatio memoriae (lat.: „Verdammung des Andenkens“, Anm. d. Red.), das Abhacken von Köpfen, so wie es in der römischen Zeit mit Nero passiert ist, hilft niemandem. Das ist Ikonoklasmus, das ist reaktionär. Wir wollen eine offene Diskussion und dafür muss das Ding da stehen. Wenn wir alle Zeugnisse der DDR-Geschichte aus dieser Stadt verbannen, vernichten wir eine Zeitgeschichte, die wir noch immer miteinander besprechen müssen. Denn es ist wichtig zu wissen, wo diese Stadt herkommt, wie sie sich entwickelt hat und was die heutige Generation damit zu tun hat.

Sie sehen das etwas anders, Frau Efe?
Efe: 
Na ja, für mich ist interessant, wie du darüber denkst, Paul. Ich frage mich zum Beispiel bei der Diskussion um die Berliner Mohrenstraße. Ein Argument, gerade von Historikern, ist, dass es sich dabei um ein Zeitdokument handelt, das bleiben muss. Andere kämpfen seit zehn, fünfzehn Jahren darum, die Straße umzubenennen, weil der Name Mohrenstraße für sie beleidigend und schwer zu ertragen ist. Da bin ich ein bisschen anderer Meinung als du. Ja, Dinge dürfen stehen bleiben und sollen mahnen, um darüber diskutieren zu können. Aber wir haben auch eine Verantwortung gegenüber Menschen, Gruppen, Minderheiten, die permanent dadurch verletzt werden. Bloß, weil bestimmte Leute etwas lernen wollen, heißt das nicht, dass andere eine Dauerverletzung hinnehmen müssen.

Spies: Das M-Wort ist verletzend und da muss man richtig aufpassen. Eine Statue von Kolumbus allerdings ist nicht verletzend, sorry. Man kann über jede Persönlichkeit diskutieren, alle haben etwas falsch gemacht. Auch Alexander von Humboldt ist kein Heiliger. Man muss dann aber überzeugende Argumente liefern. Ein Historiker könnte etwa argumentieren, dass der Name von Menschen aus Mauretanien herrührt, die als Abkürzung Mohren genannt wurden. Das hatte nichts mit Schwarzen zu tun oder mit einem Schimpfwort. Wenn man nun aber sagt, dass das Wort in der Zwischenzeit als Beleidigung benutzt wurde und wir die Leute heute nicht mehr damit konfrontieren sollten, dann bin ich auch der Meinung, dass man dieses Wort nicht verwenden soll. Wenn die Umbenennung dieser Straße wirklich stattfindet, dann müssen natürlich diese zwei Seiten gemeinsam erzählt werden. Es gibt eine historische Deutung, aber seit damals sind Dinge passiert und die Bedeutung des Wortes hat sich geändert. Auch das Z-Wort für Sinti und Roma benutzen wir nicht mehr, weil es zum Downgrading benutzt wurde. Trotzdem werden Kinder das Z-Wort immer wieder in Vollständigkeit sehen, wenn sie sich historische Bücher anschauen. Und dann sollten sie es schon kennen. Wir als Museum sind Moderator bei dieser Diskussion, aber wir sind keine Entscheider. Wichtiger ist, dass überhaupt ein Diskurs stattfindet.

Bei dem Projekt zur Dekolonisierung städtischer Erinnerungskultur geht es darum, die Orte in Berlin zu identifizieren, an denen heute noch koloniale oder verletzende Spuren zu finden sind.
Spies:
 Interessant ist ja, dass dieses Projekt auch andersherum funktioniert: In der Wilhelmstraße war das Ministerium, das sich mit kolonialen Angelegenheiten beschäftigt hat. Das ist völlig in Vergessenheit geraten. Erst jetzt wird es von den Aktivisten wieder in Erinnerung gebracht. Das Erinnern ist sehr wichtig. Und dann muss man auch sagen, welche Rolle dieses Ministerium gespielt hatte: Welche Entscheidungen wurden dort getroffen und wie hat das die Menschheit beeinflusst? Das alles ist nicht so eindeutig, und wir als Museum sind dafür da, den Verlauf der Diskussion zu moderieren.

Hat dieses Projekt auch reale Folgen wie etwa die Umbenennung von Straßennamen?
Spies:
 Zunächst einmal ist es wichtig, dass die Stimmen überhaupt gehört werden. Das ist ja das Neue daran: Diese Stimmen wurden vorher nicht gehört, es wurde weggehört. Nach dem Motto: Come on, macht doch daraus nicht so ein Problem. Nein! Es ist eine rassistische Aussage, das M-Wort zu benutzen, es verletzt, also sollte man es nicht verwenden. Wie man letztendlich mit diesen Veränderungen umgeht, ist eine demokratische Entscheidung. Aber wenn wir diese Diskussion moderieren, dann sollen diejenigen zu Wort kommen, die für gewöhnlich bisher ausgegrenzt wurden.

Efe: Der Punkt bei unseren Projekten ist, dass wir diese Multiperspektivität selbst ernst nehmen. Viele der Geschichten und Perspektiven, die im öffentlichen Raum stattfinden, sind sehr einseitig. Es gibt so viele NGOs, Ini­tiativen und kleine Expertengruppen, die sich teils jahrzehntelang mit diesen Themen beschäftigt haben, aber in der öffentlichen Diskussion überhaupt nicht zu Wort kommen. Das sieht man auch in der aktuellen Debatte wieder. Das Feuilleton schreibt eben nicht aus der Perspektive schwarzer Deutscher. Die Geschichte wird immer von denen geschrieben, die das Recht, die Ressourcen und den Zugang haben. Wir versuchen das aufzubrechen und genau den Leuten, die sich aus eigenem Interesse und Überzeugung schon lange damit beschäftigen, in der Diskussion einen Raum zu geben. Und das Wichtigste ist: Wir lernen dabei. Das wollten wir auch in unserer Solidaritätsbekundung zum Ausdruck bringen: Wir lernen und wir haben uns etwas sagen zu lassen.

Dennoch, am Ende geht es darum, einen realen Unterschied zu machen. Werden die Ergebnisse aus dem Projekt „Die Kolonialisierung Berlins“ an die Politik weitergereicht, vielleicht Handlungsempfehlungen gegeben?
Spies: 
Die Idee dieses Projekts ist es, dass eine Institution wie unsere lernt, von Anfang an gemeinsam mit Bürgerini­tiativen und aktivistischen Organisationen ein Projekt anzugehen. Ohne dass einer alleine das Sagen hat und bestimmen kann, was daraus letztendlich wird. Wir sind da nur eine Stimme von vielen. Dabei hoffen wir, dass auch die Bürgerinitiativen etwas davon haben – aber das können natürlich nur sie selbst sagen. Die inhaltliche Arbeit machen eher die aktivistischen Gruppen, uns geht es vor allem um den Prozess der Zusammenarbeit, das möchten wir gerne lernen. Am Ende sollen unsere Projektpartner die Fahne heben, und das Stadtmuseum ist vielleicht der Stock, der die Flagge trägt.

Herr Spies, wie erleben Sie als Niederländer die aktuelle Rassismus-Debatte in Deutschland? Unterscheidet sie sich von der in den Niederlanden?
Spies:
 Eigentlich nicht. Es passiert in allen westlichen Ländern das Gleiche: Die Kultur des Westens wird mit ihren Wurzeln und ihren Taten in der Vergangenheit konfrontiert. Und auch damit, wie diese Ungleichheit noch in der heutigen Zeit weiterbesteht. Ich finde es spannend, dass das in Deutschland so groß und breit aufgegriffen wird, vor allem in Berlin. Wir haben hier eine große türkische Community, die auch eine sehr heterogene Gesellschaft ist. Ich bin gespannt, was aus dieser Richtung in der kommenden Zeit noch passieren wird. Denn auch die Angehörigen dieser Community haben ziemlich viel zu sagen, darüber, wie sie behandelt worden sind und was dabei an Rassismus und Ausgrenzung passiert. In Holland sind es vor allem die schwarzen Communitys, die das Thema nach US-amerikanischem Vorbild anpacken.

Frau Efe, Sie selbst sind seit vielen Jahren in der Bürgerstiftung Neukölln aktiv. Aus dieser Perspektive: Wie ist es um Vielfalt und Diversität im Stiftungswesen bestellt?
Efe:
 Nicht so gut, würde ich sagen. Die Bürgerstiftung Neukölln wurde 2014 mit nur einer weiteren Stiftung genannt, die zu dem damaligen Zeitpunkt wirklich divers aufgestellt war. Das Thema Rassismus ist für Leute, die ihn erlebt haben oder erleben, natürlich ständig präsent. Ich erlebe es, seit ich hier geboren wurde, also seit nahezu einem halben Jahrhundert. Es ist also überhaupt nichts Neues. Dass es nun aber in die Institutionen kommt, dass das zu einem breiten gesellschaftlichen Thema wird, das ist neu. Es geht heute nicht mehr darum zu beweisen, dass man rassistisch behandelt wird. Der Drops ist zum Glück gelutscht. Jetzt geht es vor allem darum, wie man etwas daran ändern kann.

Ist das wirklich schon überall angekommen?
Efe:
 In den Institutionen, die sich nun langsam damit beschäftigen, ist dieser Erkenntnisschritt relativ schnell da. Dann wird ziemlich rasch klar: Ich muss mich im Grunde mit mir selbst beschäftigen. Die Weißen, die Europäer, müssen sich mit ihrer Perspektive, ihrer Wahrnehmung und ihrer Haltung zu ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. Und damit, wie sie in Zukunft sein wollen. Als Weiße wurden sie nie dazu angehalten, das zu tun. Man konnte ja so schön über andere sprechen. Ich habe zum Beispiel beim Amt für Migration und Flüchtlinge einmal die Bezeichnung „weiße Deutsche“ benutzt, woraufhin sich der Leiter extrem echauffiert hat. Aber wieso eigentlich? Er hat die ganze Zeit versucht, eine Bezeichnung für mich zu finden. Wenn ich keine weiße Deutsche bin, sondern eine andere Deutsche, müssen wir das doch gleichberechtigt und auf demselben Niveau miteinander aushandeln können. Das sind Diskussionen, die es jahrzehntelang nicht gab. Es brauchte die zweite, dritte, vierte Generation, die vocal genug ist und sich ausdrücken kann. Die auch den Mut dazu hat! Wenn man etwa als einzige Nicht-Weiße in einem Saal voller Weißer sitzt und dann etwas sagen soll, braucht das Mut. Es wird immer gesagt, wir wären in den letzten 50 Jahren sehr weit gekommen. Aber wir sind gerade erst raus aus dem Tabu und dem Verdrängen ins Unbewusste. Jetzt erst sind wir in der Sphäre angekommen, wo wir es aussprechen dürfen, jetzt erst dürfen wir anfangen.

Wie haben Sie den Umgang mit Rassismus selbst erlebt?
Efe:
 Zu meiner Uni-Zeit haben wir Rassismus nur das R-Wort genannt, weil die Weißen dabei jedes Mal zusammengezuckt sind. Rassismus gab es offiziell nicht. Im Stiftungswesen wurde immer von „Fremdenfeindlichkeit“ gesprochen. Ich habe dann immer gesagt: Entschuldigung, wir haben einen wirklich wissenschaftlichen Terminus dafür, auch wenn sich nicht alle im Klaren darüber sind, was der bedeutet. Das Ding heißt Rassismus, nicht Fremdenfeindlichkeit! Wir reden hier über Kinder in Berlin-Neukölln in vierter Generation, sorry, aber das sind keine Fremden. Institutionen wie Stiftungen, Museen oder andere Bildungsträger sind nicht außerhalb der Gesellschaft. Sie alle sind Teil dieses öffentlichen Diskurses – und wir hatten einen ziemlich schlechten in den letzten 20 Jahren.

Sie als Stadtmuseum beschäftigen sich selbst sehr stark mit der Diversität in Ihrem eigenen Haus. Vor allem die neu geschaffene Stelle von Ihnen, Frau Efe, als 360°-Agentin soll zu einer „diversitätsorientierten Öffnung“ beitragen. Wo haben Sie mit Ihrer Arbeit angesetzt?
Efe:
 Erstens geht es darum, das Stadtmuseum und seine Mitarbeiter*innen auf allen Ebenen zu sensibilisieren. Es ist wichtig, das Thema aus dem Tabu herauszuholen und Ängste und Widerstände abzubauen. Dazu biete ich beispielsweise Gespräche an. Ich muss aber auch ehrlich sagen, dass diese nicht immer angenommen werden, weil es noch immer Berührungsängste gibt. In informelleren Situationen wird allerdings immer öfter darüber gesprochen. Das Wesentliche ist jedoch, strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Das heißt, wir haben innerhalb der Organisation eine Organisation, die sich mit Diversität, Sensibilität und Orientierung beschäftigt. Da kommen Mitarbeiter*innen aus allen Fachbereichen zusammen. Wir haben ein Selbstverständnis entwickelt und sind gerade dabei, einen „Code of Ethics“ vorzubereiten, den wir dann ins Haus tragen und weiter diskutieren werden. Ich bin außerdem in nahezu allen Gremien und arbeite an vielen Projekten mit. Im Personalbereich sind wir dabei, eine diversitätsorientierte Personalgewinnung strategisch zu implementieren. Das betrifft die Stellenausschreibung, die Personalgewinnung und auch die Auswahlgespräche. Und was völlig neu ist: Als 360°-Agentin habe ich ein Stimmrecht bei Bewerbungsverfahren. Das ist ein Riesenschritt und eine strukturelle Veränderung, die ich von anderen Organisationen so nicht kenne.

Wie weit sind Sie bei diesem Wandel schon gekommen? Würden Sie sagen, dass Ihre Stiftung divers aufgestellt ist?
Spies:
 Es geht schrittweise voran, aber wir sind noch immer eine weiße Organisation. Natürlich kommt es darauf an, wohin man schaut. Wir haben sehr viele diverse Menschen im Besucherservice, weil wir bei der Auswahl von Mitarbeitenden im Empfangsbereich darauf achten, die Vielfalt der Stadt zu zeigen. Wenn man das Museum betritt, soll man nicht nur ältere weiße Leute sehen. Das funktioniert immer besser, aber wir müssen bescheiden sein, was die bisher errungenen Resultate betrifft.

Efe: Das ist in Deutschland ja kein Ausnahmefall. Wir haben in den Institutionen einfach sehr, sehr wenig Diversitätskompetenz. Deshalb ist es ein großes Glück, dass wir mit dem 360°-Projekt nun finanziell gut ausgestattet sind und die Möglichkeit haben, daran etwas zu ändern.

Was passiert mit den altgedienten Angestellten?
Spies:
 Die werden wir natürlich nicht entlassen, wir werden Nachfolger finden, die divers sind. Das heißt, der Personalbestand ändert sich erst allmählich. Die älteren Leute, die bei uns arbeiten, sind wunderbar, da gibt es nichts Negatives zu sagen. Wir grenzen die Leute, die es gibt, nicht aus, wir möchten nur, wenn es geht, neu aufbauen. Und dann so divers wie möglich.

Gerade für Museen besteht die große Herausforderung immer darin, diejenigen anzulocken, die normalerweise nicht den Weg in ein Museum finden. Wie erreichen Sie diese Menschen?
Spies: 
Das Thema Publikum ist das allerschwierigste. Erst einmal müssen wir Programme entwickeln, die für diese Gruppen überhaupt von Interesse sind. Aber: Können wir das? Wissen wir das? Nein! Das müssen wir erst partizipativ entwickeln, also nicht sagen, sondern fragen. Wir müssen lernen, wie man sich denjenigen zuwendet, die nicht die klassischen Intellektuellen sind. Und dann liegt plötzlich eine Riesenaufgabe vor einem. Aber zumindest haben wir jetzt mal angefangen.

Werden Sie die Erkenntnisse, die Sie im Laufe der Zeit gewinnen, weitergeben?
Efe:
 Ja, natürlich. Das 360°-Projekt-Programm findet ja bundesweit an über 30 Institutionen statt. Dabei gibt es Evaluationen, programmübergreifende Broschüren und Wissenstransfer. Das Programm ist auf vier Jahre angelegt und ich habe gerade einmal das erste Jahr hinter mir. Wir brauchen noch etwas Zeit, um wirklich valide Aussagen treffen zu können.

Haben Sie trotzdem einen Tipp, wie sich Organisationen diverser aufstellen können?
Efe:
 Ich kann wirklich empfehlen, mit Diversitätsmanager*innen durch die eigenen Strukturen zu gehen und sich zu fragen, wo sind eigentlich Schnittstellen, Scharniere, an denen man etwas bewegen kann. Wie lange ist wer in welcher Position? Wie werden unsere Stellen ausgeschrieben? Für welche Themen interessieren wir uns? Wie ist unsere Organisationskultur? Das war übrigens das Gute am Stadtmuseum: Hier wurde diese 360°-Stelle über zwei Jahre lang vorbereitet. Es gab das Programm Diversity Arts Culture, bei dem zwei Beraterinnen die ganze Institution intern angeschaut und einen Bericht geschrieben haben. Daraus wurde abgeleitet, was überhaupt getan werden muss. Solch eine Analyse würde ich jeder Organisation empfehlen.

Inwiefern wird die Neuaufstellung Ihrer Stiftung von der Politik gefördert?
Spies:
 Hier muss ich dem Land Berlin und der Bundes­regierung ein Kompliment machen: Wir bekommen wirklich ausreichende Mittel für die 360°-Stelle und unsere Projekte zum Kolonialismus in der Stadt. Man kann vom Stadtmuseum nicht erwarten, für alle da zu sein, und dann nicht genügend Ressourcen zur Verfügung stellen. Dafür brauchen wir Leute und Mittel – und die bekommen wir. Insofern können wir uns dieser Rolle wirklich annehmen, und das finde ich ganz klasse von Berlin. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir noch beweisen müssen, dass wir das tatsächlich verdient haben. Ich hoffe, dass unsere Berlin-Ausstellung im Humboldt­-Forum zu „Berlin und die Welt“ völlig klarmacht, dass wir auf diesem Feld einen Schritt gemacht haben.

Als Stadtmuseum oder auch als Stadt Berlin?
Spies:
 Gute Frage. Es wurde ja von der Stadt Berlin finanziert, wir sind eben diejenigen, die es machen dürfen. Und es war auch klar, dass ich Themen wie Diversität und Anti-Rassismus auf die Agenda setzen würde. So verstehe ich jedenfalls meine Aufgabe. Wenn es nicht gut ist, was ich hier mache, gehe ich wieder zurück nach Holland, kein Problem. (lacht)

Noch ein Abschlusswort zum Dauerbrenner ­Humboldt Forum?
Spies:
 Also, man kann die Architektur des Humboldt Forums und auch die Kuppel und das Kreuz kritisieren. Da wurden Fehler gemacht, keine Frage. Aber wenn man den besten Ort der Stadt und 660 Millionen Euro nicht der deutschen oder der Berliner Geschichte widmet, sondern der Welt, dann sagt das etwas. In Holland ist man noch nicht so weit. Der Palast auf dem Dam gilt nicht der Welt, da geht es noch immer um das Königshaus, das Goldene Zeitalter und die wunderbaren Erfolge in der Geschichte der Niederlande. Das ist beim Humboldt Forum anders. Es gelingt nur noch nicht, das auch zu kommunizieren. Aber ich glaube, Hartmut Dorgerloh (Generalintendant des Humboldt Forums, Anm. d. Red.) wird demnächst ganz klar sagen: Das hier ist ein Institut, das genau diese Themen offen und kritisch betrachtet. Wir machen es mit unserer Ausstellung so. Und es wird eine tolle Ausstellung, bei der alle Leute denken werden, wow. Es wird wirklich spektakulär.

Über die Interviewpartner

Idil Efe ist eine von 48 360-Grad-Agent*innen, die deutschlandweit in 39 verschiedenen Institutionen aktiv sind. Paul Spies war Direktor der Amsterdam Museums Foundation, bevor er zum Stadtmuseum Berlin wechselte.

Stadtmuseum Berlin

Die Stiftung Stadtmuseum Berlin ist eine Stiftung öffentlichen Rechts und hat die Aufgabe, „Kunstwerke und sonstige Kulturgüter zur Kultur und Geschichte Berlins zu sammeln, zu bewahren, zu pflegen, zu erforschen“. Zu ihr gehören das Märkische Museum, das Museum Nikolaikirche, das Museum Ephraim-Palais, das Museum Knoblauchhaus sowie das Museumsdorf Düppel. Ab Ende 2020 wird das Stadtmuseum die Ausstellung „Berlin global“ im Humboldt Forum präsentieren.

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