„Wir stehen auf gelebter Kultur“

Jung und Alt spielen Schach
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© Erik Weiss
29.03.2021
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„Dienst-Tag für Menschen“ heißt das Bündnis, zu dem sich mitten in der Corona-Krise drei große Würzburger Stiftungen zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel: bessere Arbeitsbedingungen für Menschen in helfenden Berufen. Wir sprachen mit den Initiatoren über die Situation in ihren Einrichtungen, Solidarität in der Pandemie und den langen Schatten der Stiftungsgründer.

Stiftungswelt: Frau Noffz, Herr Herberth, Herr Spielmann, Sie alle drei leiten große Sozialunternehmensstiftungen in Würzburg. Wie geht es Ihnen in Jahr zwei der Corona-Pandemie, wie lebt es sich in diesem monatelangen Krisenmodus?
Johannes Spielmann: Wir spüren schon, dass das ein Marathon ist – allerdings einer, bei dem wir die Kilometerzahl, die noch zu laufen ist, nicht kennen. Das macht das Ganze so mühsam.

Annette Noffz: Und es ist ein Marathon, für den wir alle zu Beginn sehr schlecht ausgerüstet waren. Erfreulich ist, dass sich unterwegs viele finden, die auf dem gleichen Weg sind wie wir. Und dass wir versuchen, die Themen gemeinsam anzugehen und um langfristige Lösungen zu kämpfen.

Walter Herberth: Einerseits stimmt mich die Aussicht, dass sich durch die Impfungen das Leben in unseren Einrichtungen im Laufe des Jahres wieder normalisieren wird, hoffnungsvoll. Andererseits ist die Planung für dieses Jahr extrem schwierig. Unseren Stiftungstag, den wir jedes Jahr am 12. März, dem Gründungstag unserer Stiftung, feiern, musste ich absagen. Wir werden nun versuchen, ihn im Sommer nachzuholen. Dieses Nichtwissen, was demnächst möglich sein wird und was nicht, erlebe ich als sehr zermürbend.

Frau Noffz, in einer Einrichtung Ihrer Stiftung gab es einen Ausbruch, an dem über 20 Bewohnerinnen und Bewohner gestorben sind. Das war im März 2020, gleich zu Beginn der Pandemie; entsprechend viel wurde darüber berichtet. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Noffz: Es war eine schreckliche Zeit, eine, die ich als Albtraum bezeichnen würde. Leider bin ich mir relativ sicher, dass viele der psychischen Belastungen aus den vergangenen zwölf Monaten erst noch an die Oberfläche gelangen werden. Das wird dann sein, wenn wieder mehr Zeit ist, um nachzudenken. Im Moment ist noch zu vieles zu tun, um all diejenigen, die noch nicht geimpft werden konnten, zu schützen. Und dennoch versuchen wir alles dafür zu tun, dass unsere Bewohner ein in dieser Zeit möglichst hohes Maß an Betreuung erfahren. Es gibt aber auch einen positiven Aspekt aus dieser Zeit: ein sehr großer Teamgeist, der gerade damals zu spüren war.

Spielmann: Dieses Gefühl der Ohnmacht, gerade auch in der Rolle als Führungskraft, ist eine neue Erfahrung, die mit dieser Pandemie verbunden ist. Dass man alles getan hat, was präventiv notwendig ist, und dennoch geschieht es. Gleichzeitig hat man ja auch Verantwortung als Führungskraft, die Mitarbeiterschaft zu stärken und ihr Vertrauen zu vermitteln. Ich denke, dass wir alle gelernt haben, wie wichtig Kommunikation ist, und zwar in ganz kleinen Schritten und ständig. Denn nur eine gute Kommunikation schafft wirklich Vertrauen, zumindest in die eigenen Häuser hinein.

In den Medien wird derzeit viel über die Situation alter und pflegebedürftiger Menschen in der Corona-Krise berichtet. Diese selbst hingegen kommen meinem Eindruck nach kaum selbst zu Wort. Sie sind ja sehr nah dran an diesen Menschen. Was war für Sie in dieser Hinsicht das eindrücklichste Erlebnis in den vergangenen Monaten?
Noffz: Wir hatten einige Monate nach Beginn der Pandemie eine Journalistin bei uns, die von einer Bewohnerin wissen wollte, was denn das Schlimmste für sie in der Corona-Zeit gewesen sei. Die Dame, die in dem Haus lebt, in dem es zu diesem schlimmen Ausbruch gekommen war, hat geantwortet: Das Schlimmste war, dass ich aus meinem Zimmer ausziehen musste. Die Journalistin hat im Laufe des Gespräches noch zwei-, dreimal nachgefragt, weil sie das nicht glauben wollte. Es war spürbar, dass sie damit gerechnet hatte, dass die Vereinsamung, die Isolation das Schlimmste war.

Wie erklären Sie sich die Antwort der Bewohnerin?
Noffz: Bei uns hatte eine sogenannte Kohortierung stattgefunden. Das heißt, die Leute sind drei Wochen nach dem Ausbruch im Haus verlegt worden, um in einzelnen Wohnbereichen Covid-19-Stationen einzurichten und die anderen möglichst freizuhalten. Vor dem Hintergrund einer notwendigen Isolierung und um eine weitere Übertragung zu verhindern, macht das alles viel Sinn. Doch für einige der betroffenen Menschen war das sehr schlimm. Die alte Dame, die selber an Corona erkrankt war, hatte alle ihre Bilder und sonstigen Erinnerungsgegenstände in diesem Zimmer, in ihrer gewohnten Umgebung. Nicht alles konnte mit umgezogen werden, sondern einige Dinge wurden verpackt und verschlossen aufbewahrt. Wir müssen uns an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass wir es hier mit Bewohnern eines Seniorenheimes zu tun haben, die dauerhaft in ihren Zimmern leben, und nicht mit Patienten, die sich vorübergehend in einem Krankenhaus aufhalten.

„Diese Pandemie ist wie ein Marathon. Noch dazu einer, für den wir alle zu Beginn schlecht ausgerüstet waren.“
Annette Noffz

Sie hatten vorhin von der Solidarität gesprochen, die Sie im Zuge der Corona-Krise wahrnehmen. Wie äußert sich die?
Noffz
: Ein Beispiel: Als wir im März vergangenen Jahres bei uns im Bürgerspital den Corona-Ausbruch hatten, sind wir in Teilen der Presse recht hart angegangen worden. Nicht im Sinne direkter Vorwürfe, aber unterschwellig schwang in einigen Berichten doch die Frage mit, warum es gerade unser Haus getroffen habe. In dieser für uns sehr schwierigen Zeit hat Herr Herberth in einem Gastbeitrag für die „Main-Post“ geschrieben, dass es jedes Seniorenheim hätte treffen können, und die Frage aufgeworfen, was uns Medizin und Pflege eigentlich wert sind. Das war für mich ein unglaublich wichtiges Zeichen der Solidarität.

Spielmann: Ich will Ihnen eine kleine Geschichte über Solidarität erzählen, die uns total gefreut hat: Im Sommer kam ein Unterstützerpaar auf uns zu und sagte: „Ihr habt so eine schwere Zeit, wir spendieren euch allen, also Klienten wie Mitarbeitern, ein Eis.“ Das war eine wunderschöne Geste, die bei unseren Kollegen und Kolleginnen als echte Solidaritätsbekundung ankam.

Herberth: Solidarität erlebe ich auch in der Kommunikation mit anderen Einrichtungen. Die Pflegeheimbetreiber in Würzburg etwa stimmen sich regelmäßig ab, was ihre Besuchsregelungen betrifft. Denn wenn das jeder nach seinem Gutdünken handhabt, sehen wir uns schnell dem Vorwurf ausgesetzt, dass die benachbarte Einrichtung das angeblich besser regelt als wir. Darüber miteinander zu reden und sich in diesen und anderen Fragen abzustimmen, erleichtert vieles im täglichen Betrieb.

Mit Ihren Einrichtungen repräsentieren Sie drei große soziale Bereiche: Behindertenhilfe, Altenpflege und Krankenhäuser. Wie erleben Sie die Sicht des jeweils anderen auf Ihren eigenen Bereich? Wo hat Solidarität da vielleicht auch ihre Grenzen?
Spielmann: 
Das Besondere an der derzeitigen Situation ist, dass man dieses Spartendenken überwindet. Klar, manchmal gibt es Situationen, in denen ich denke, das hätte ich auch gern für meine Klienten. Aber nicht im Sinne von Neid. Was uns eint, ist das Übergreifende: Wir stehen für Menschen, die Unterstützung und Hilfe brauchen, weil sie in einer Phase ihres Lebens sind, die sie nicht alleine bewältigen können. Das ist es, was uns Sozialunternehmensstiftungen verbindet. Ich finde, dass Corona diese Verbundenheit noch gestärkt hat.

Was Sie darüber hinaus gemeinsam haben: Sie leiten alle drei Stiftungen, die auf eine lange Geschichte zurückblicken. Wie sehr prägt diese teils jahrhundertealte Tradition Ihre eigene Tätigkeit?
Noffz: 
Das Wissen darum verändert schon die innere Haltung. Wenn ich für eine Stiftung arbeite, die im Jahr 1316 gegründet wurde, steigert das Wissen um diese Historie das Verantwortungsgefühl noch einmal. Das ist schon etwas Besonderes, und es ist auch ein Glück und eine Herausforderung. Ich bin immer wieder begeistert, wenn ich mir überlege, dass vor über 700 Jahren ein Ehepaar die großartige Idee hatte, diese Stiftung zu gründen, die ja bis heute den gleichen Stiftungszweck hat. Die beiden haben sich damals etwas Sagenhaftes überlegt, etwas, bei dem es um Menschlichkeit, um gegenseitige Unterstützung geht. Das ist ein tolles Ziel, da lohnt es sich immer weiterzuarbeiten.

Wie macht sich diese Verbundenheit mit dem Stiftergedanken im Alltag bemerkbar?
Noffz
: Während der letzten Monate haben wir stiftungsintern oft sehr kurzfristig einen Aufruf gestartet, zum Beispiel: Wir brauchen ganz schnell zehn Kräfte, die bei der Essensausgabe helfen, und zwar in Vollmontur. Und es hat keine zwei Stunden gedauert, dann standen die Pläne für die nächsten Tage, weil unsere Handwerker, unsere Leute aus der Verwaltung, und auch diejenigen, die im Weingut arbeiten, gesagt haben: Ich bin da, teilt mich ein. Das ist eine Solidarität untereinander, die ist großartig. Da bin ich jeden Tag aufs Neue dankbar, dass sich die Mitarbeiter als Bürgerspitäler – so heißt das bei uns – begreifen und zusammenhalten. Das gibt es und das tut verdammt gut.

Herberth: Ich kann mich dem nur anschließen. Als ich aus dem bayerischen Staatsdienst zur Stiftung Juliusspital gewechselt bin, habe ich sofort gewusst: Das ist wirklich die Aufgabe, die ich machen möchte. Diese Faszination rührt tatsächlich aus der Historie, aus der Idee des Stiftungsgründers und aus klugen Sätzen, die er geprägt hat.

Welchen zum Beispiel?
Herberth: 
Dass die Stiftung immer den Mangel der jeweiligen Zeit erkennen und nach Möglichkeit beheben soll.

Spaß im Familienzentrum des Paul Gerhardt Stiftes
© Erik Weiss
Spaß im Bewegungsraum: Eigentlich bietet das Familienzentrum des Paul Gerhardt Stiftes hier Bewegungskurse für junge Familien an. Da diese wegen Corona zurzeit nicht stattfinden können, wurde der Bewegungsraum kurzerhand umfunktioniert: Nach Anmeldung und zu festen Zeiten können Eltern mit ihren Kindern hier gemeinsam spielen, toben oder malen – wie dieser Vater mit seinen beiden Kindern.

Wie gehen Sie heute mit diesem Auftrag Ihres ­Stifters um?
Herberth:
 Im Jahr 2000 haben wir uns intensiv mit dem Thema Palliativmedizin befasst. Dem ging die Erkenntnis voraus, dass der Mangel unserer Zeit der Umgang mit sterbenskranken Menschen ist. Und wir haben uns entschieden: Wir müssen etwas dagegen tun, auch wenn Palliativbetreuung finanziell noch nicht abgesichert ist. Wir steigen ein in diesen Bereich. Das ist das, was die Faszination Stiftung ausmacht. Natürlich muss dieser Stiftungsgedanke weiterentwickelt und an die jeweilige Zeit angepasst werden. Aber er geht tatsächlich nie verloren.

Spielmann: Wir haben gerade unsere Chronik herausgegeben und beziehen uns darin ganz oft auf unseren Gründer, der kein reicher Adliger war. Aber er war ein Mensch, der die Menschen um sich in ihrer Not gesehen hat. Er hat damals, weil er selbst nicht vermögend war, einen Gedichtband geschrieben, hat damit die ersten 1.400 Gulden gesammelt, um die erste Schule für blinde Kinder in Unterfranken zu gründen, die vorher als nicht bildbar galten. Jetzt in der Krise stehen wir wirklich auf einer gelebten Kultur, die geprägt wurde durch den Stifter, der den Menschen in den Mittelpunkt gestellt hat.

Herberth: Dieses Selbstverständnis empfinde ich manchmal fast wie eine geschlossene Haltung in dieser etwas eigenen, sehr positiv gestimmten Stiftungswelt. Die große Frage ist: Wie bringen wir diese Haltung, diese Ideen aus der Stiftungswelt in die Welt da draußen, um etwas zum Positiven zu verändern? Denn dieser Grundsatz „Menschlichkeit vor Ökonomie“ gilt ja nicht in der großen Welt. Das war vielleicht auch der Anstoß für unser Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“.

Dieses Aktionsbündnis, das sich für konkrete Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Menschen in den sogenannten helfenden Berufen einsetzt, haben Sie im September 2020 gemeinsam gegründet. Wie kam es dazu?
Noffz:
 Wir drei sind schon lange der Überzeugung, dass sich hier etwas grundlegend ändern muss, was durch Corona noch deutlicher wurde. Wir wollen die Aufmerksamkeit auf die Missstände lenken, die in den Bereichen vorhanden sind, die wir vertreten. Aus diesem einen Treffen hat sich das in einer rasanten Geschwindigkeit entwickelt. Wir hatten sehr schnell viele Unterstützer, die gesagt haben, dass sie mitmachen.

Drei Stiftungen als Bündnisinitiatoren: Zufall oder ­innere Logik?
Herberth:
 Das würde ich jetzt nicht so hoch hängen. Wir drei können einfach gut miteinander. Wenn wir damals auf die Suche gegangen wären nach anderen gleichgesinnten Trägervertretern, hätte das Zeit gekostet. So konnten wir einen Schnellstart hinlegen.

Spielmann: Ich glaube schon, dass wir als Vertreter großer, traditionsreicher Stiftungen ein Stück Vertrauensvorschuss bekommen. Stiftungen genießen ein hohes Ansehen, auch bei anderen sozialen Einrichtungen. Und man nimmt uns unsere Forderungen im Rahmen des Bündnisses eher ab, weil wir das, was wir da fordern, in unseren eigenen Häusern bereits realisieren. Umgekehrt macht Stiftung auch ein bisschen selbstbewusst.

Noffz: Zudem denken Stiftungen in ganz anderen Zeiträumen als andere Organisationen; ihnen ist ja schon qua Rechtsform der Ewigkeitsgedanke inhärent. Privatunternehmen hingegen müssen an die Rendite am Ende eines Jahres denken. Es ist nicht so, dass Stiftungen nicht ökonomisch denken könnten, im Gegenteil, aber sie haben andere Zeiträume im Blick.

Das klingt, als ob sich durch Corona neue Gräben auftun zwischen gemeinnützigen Einrichtungen und solchen, die privatwirtschaftliche Interessen verfolgen.
Herberth:
 Der Begriff Gräben beschreibt es ganz gut. Private Klinikketten haben eine Renditeorientierung. Und wir Stiftungshäuser kommen eben aus dieser mittelalterlichen Einstellung zum Menschen. Es gibt Klinikketten, die aus gescheiterten Immobilienprojekten entstanden sind. Die Immobilie hat sich nicht gelohnt, deshalb hat man entschieden, eine Klinik daraus zu entwickeln. Das stellt schon mal die unterschiedlichen Positionen dar. Mit einem Geschäftsführer einer privaten Klinikkette über dieses Thema zu sprechen, stelle ich mir sehr schwierig vor.

Sind große Stiftungen wie die Ihren, die über Landbesitz und Immobilien verfügen, nicht in einer privilegierten Situation, weil sie finanziell auf solider Basis stehen und daher anders agieren können als private Anbieter von Gesundheitsleistungen?
Herberth:
 Dem will ich sofort widersprechen. Natürlich haben Stiftungen einen finanziellen Hintergrund, Einnahmen aus ihren verschiedenen Geschäftsbereichen. Aber das Finanzpolster ist nicht so dick, wie man sich das gern von außen vorstellt. Hinter kommunalen Häusern steht eine Gebietskörperschaft, eine Stadt oder ein Landkreis. Wenn der die Kreisumlage für seine Gemeinden erhöht, dann kommen schnell Millionen in die Kreiskasse, aus der dann das Kreiskrankenhaus finanziert werden kann. Und die Privaten machen das am Aktienmarkt – natürlich immer mit der Intention, noch mehr Geld zu verdienen. Die Stiftungen sind, was das Finanzielle anbelangt, sicher nicht bevorzugt, sondern müssen im Gegenteil auf die Wirtschaftlichkeit achten, um ihren Auftrag tatsächlich auf Dauer, auf Ewigkeit erfüllen zu können.

Spielmann: Ich erlebe das manchmal fast als ein Hindernis, dass Außenstehende immer denken, Stiftungen hätten ganz viel Geld. Es gibt Stiftungen, bei denen das so ist. Aber wir haben eigentlich wie jede soziale Einrichtung das, was wir erwirtschaften. Was natürlich hinzukommt, ist, dass es immer wieder Menschen gibt, die mit uns Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit verbinden und uns unterstützen, indem sie uns eine Erbschaft hinterlassen. Ich denke schon, dass es ein größeres Vertrauen in Stiftungen gibt als in andere Organisationen, aber sonst haben wir die gleichen Bedingungen.

Was sind konkret die Forderungen des Bündnisses?
Noffz:
 Eine unserer Forderungen ist die bundesweite Einführung eines allgemeingültigen Tarifvertrags für die helfenden Berufe und die Festschreibung einer 35-Stunden-Woche. Hintergrund ist, dass unsere Mitarbeitenden einfach mehr Ausgleichszeiten im Sinne von Erholungszeiten brauchen. Wir merken ja bei unseren Kolleginnen und Kollegen, wie schnell sie unter den extremen Bedingungen dieses Berufs ausbrennen und ihn dann auch verlassen. Und für die ganze Pflegebranche und deren Ruf wäre eine insgesamt gute Bezahlung sehr förderlich.

„Die Faszination Stiftung rührt aus der Idee des Stifters und klugen Sätzen, die er geprägt hat.“
Dr. Walter Herberth

Spielmann: Herr Herberth hat ja vorhin schon die Unterschiede zu kommerziellen Anbietern angedeutet. Wir fordern, dass mit Dienstleistungen, die der allgemeinen Daseinsvorsorge dienen, kein Gewinn gemacht werden darf. In diesem Bereich muss es wirklich darum gehen, kostendeckend zu arbeiten.

Herberth: Das dritte Thema ist Bürokratie. Der Zeitanteil für Dokumentation und Bürokratie liegt bei 25 Prozent und mehr. Eine erschreckende Zahl. Denn diese Zeit geht für die Betreuung der uns anvertrauten Menschen verloren. Eng damit zusammen hängt unser Anliegen, die Digitalisierung zügig voranzubringen. Dafür braucht es natürlich Mittel. Die sind jetzt vom Bund für die Krankenhäuser freigegeben worden. Hier ist übrigens überraschend, dass jetzt von der Bundesregierung plötzlich vier Milliarden Euro ins System geschossen werden, um länderspezifische Defizite in diesem Bereich beheben zu können. Das ist für mich auch ein Eingeständnis der Fehlentwicklung in den letzten 20 Jahren.

Noffz: Ich will noch einen Aspekt ergänzen: Das Problem ist ja nicht nur, dass sich auch gemeinnützige Organisationen aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen immer schwerer tun, ihre Aufgabe sinnvoll und verantwortungsvoll zu erfüllen. Es steht viel mehr auf dem Spiel. Wenn wir die Probleme in den Bereichen Behindertenhilfe, Gesundheitswesen und Altenpflege nicht versuchen zu lösen, dann ist irgendwann auch der soziale Friede in Gefahr. Leider gibt es für die zu lösenden Probleme keine einfachen Antworten.

Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie bisher erreicht haben?
Noffz:
 Ein klares Jein. Einerseits finde ich es erstaunlich, was wir über dieses Bündnis bereits erreicht haben. Andererseits wäre ich gern schon weiter. Ich würde mir mehr Diskussionen mit politischen Entscheidungsträgern über die Frage wünschen, wie mögliche Lösungen aussehen könnten.

Spielmann: Ich bin schon zufrieden. Neulich habe ich in der Zeitung gelesen, dass sich eine CSU-Politikerin für die Einführung der 35-Stunden-Woche für Pflegekräfte einsetzt, nachdem wir miteinander gesprochen hatten. Das hat mich sehr gefreut. Ich finde es erstaunlich, mit wie vielen Menschen, die politische Verantwortung tragen, wir bereits sprechen konnten. Dieses Jahr ist Bundestagswahl. Und in einigen Wahlprogrammen wurden unsere Themen bereits aufgegriffen. Daran haben auch wir einen Anteil.

Im Grunde sind die Missstände seit Jahrzehnten bekannt. Sehen Sie die aktuelle Ausnahmesituation als Chance, dass sich endlich etwas ändert?
Herberth:
 Ich möchte nicht sagen, dass ich es glaube. Aber ich hoffe es stark und will diese Hoffnung festmachen am Thema Intensivbetten. In der ersten Corona-Welle wurde die Zahl der Intensivbetten massiv ausgebaut. Jedes Krankenhaus bekam 50.000 Euro pro neu eingerichtetem Bett. Doch schnell stellte sich heraus: Das Bett ist nicht das Problem. Das Problem ist die Verfügbarkeit des Personals. Wir können noch so viel Material bereitstellen – wenn wir das Personal nicht haben, überstehen wir die nächste Krise nicht.

Spielmann: Ich glaube tatsächlich, dass wir in der Krise wie unter einem Brennglas die Schwachpunkte erkennen. Der Spruch „In jeder Krise steckt eine Chance“ klingt ja ein bisschen abgedroschen. Ich würde es eher als Wachrütteln bezeichnen: Wenn ihr jetzt nicht aufwacht und begreift, was braucht ihr denn dann?

Ihr Bündnis stellt sehr konkrete Forderungen mit Blick auf die Arbeitsbedingungen von Menschen in helfenden Berufen. Müsste es aber nicht viel weitergehen? Bräuchten wir nicht einen grundlegend anderen Umgang der Gesellschaft mit Alter, Krankheit, Tod?
Spielmann:
 Ich gebe Ihnen sehr recht. Und ich habe das Gefühl, dass wir uns in Deutschland tatsächlich sehr schwer damit tun. Einmal hat mich ein Freund im Blindeninstitut besucht und danach zu mir gesagt: „Ich habe noch nie in meinem Leben Menschen gesehen, die so schwer beeinträchtigt waren.“ Und als Zweites kam dann: „Was Ihr hier macht, das könnte ich nicht.“ Das Problem ist, dass wir als Gesellschaft diese Tätigkeiten an bestimmte Berufsgruppen wegdelegieren und selbst viel zu wenig Berührung damit haben.

„Dieses Gefühl der Ohnmacht ist eine neue Erfahrung, die mit der Pandemie verbunden ist.“
Johannes Spielmann

Herberth: Das ist eine philosophische Frage, die Sie stellen. Und die hat ja einen Hintergrund. Die Entwicklung weg von der Großfamilie hin zur Kleinfamilie bzw. zum Singlehaushalt hat dazu geführt, dass diese Themen jetzt von Spezialisten erledigt werden, von Spezialkräften in Pflegeheimen, in Hospizen. Ich werde nie eine Diskussion vergessen, die wir vor einigen Jahren über den Standort unseres Hospizes in Würzburg geführt haben. Wir wollten es mitten in Würzburg errichten, wo es übrigens jetzt auch steht. Damals hat eine Stadträtin unser Vorhaben mit den Worten kommentiert: „Ach, so was macht man doch am Rande der Stadt.“ Dieser Satz hat es auf den Punkt gebracht: Ich möchte damit nicht konfrontiert werden, es soll nicht vor meinen Augen passieren. An dieser Haltung, die typisch ist für unsere Gesellschaft, hat sich meines Erachtens durch die Corona-Krise nicht spürbar etwas verändert.

Über die Gesprächspartnerin und die Gesprächspartner

Annette Noffz, Juristin und Steuerberaterin, ist seit Mitte 2012 Leitende Stiftungsdirektorin der Stiftung Bürgerspital zum Hl. Geist in Würzburg. Walter Herberth war von 1999 an zehn Jahre lang Leiter des Krankenhauses der Stiftung Juliusspital Würzburg. Seit April 2009 hat der Jurist die Gesamtleitung der Stiftung inne. Johannes Spielmann ist seit 1992 in der Blindeninstitutsstiftung tätig. Seit 2006 ist der Theologe und Heilpädagoge Vorstand der Stiftung.

Stiftung Bürgerspital zum Hl. Geist

Die im Jahr 1316 von dem Würzburger Patrizierehepaar Johannes und Mergardis von Steren gegründete Stiftung Bürgerspital zum Hl. Geist betreibt Seniorenheime und -wohnstifte, einen Ambulanten Pflegedienst, ein Geriatriezentrum, ein Weingut und verwaltet ihren Immobilienbesitz. Zudem verwaltet sie weitere Stiftungen, die auf unterschiedlichen Gebieten fördernd tätig sind. Die Stiftung beschäftigt rund 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
www.buergerspital.de

Stiftung Juliusspital Würzburg

Die Stiftung Juliusspital Würzburg wurde 1576 von Julius Echter von Mespelbrunn gegründet mit dem Auftrag, kranken, alten und armen Menschen zu helfen. Heute ist die Stiftung unter anderem in der Seniorenpflege und Krankenversorgung tätig. Ein Schwerpunkt liegt seit dem Jahr 2000 auf der Palliativversorgung schwerstkranker und sterbender Menschen. Die Stiftung zählt zu den größten Landwirten und privaten Waldeigentümern Bayerns und betreibt unter anderem ein Tagungszentrum, ein Weingut sowie gastronomische Einrichtungen.
www.juliusspital.de

Blindeninstitutsstiftung

Seit ihrer Gründung 1853 durch Graf Moritz zu Bentheim-Tecklenburg-Rheda ist es das Kernanliegen der Blindeninstitutsstiftung, blinden und sehbehinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen – damals durch die Gründung einer Blindenschule in Würzburg, heute durch Unterstützungs-, Förder- und Beratungsangebote für rund 5.000 Klientinnen und Klienten aus ganz Bayern und Thüringen. Die Blindeninstitutsstiftung ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts, hat ihren Sitz in Würzburg und beschäftigt etwa 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
www.blindeninstitut.de

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