„Ein gutes Leben hängt in Deutschland von den Teilhabechancen ab“
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat in Kooperation mit der Wüstenrot Stiftung Lebensverhältnisse in ganz Deutschland untersucht. Mit dem Leiter des Forschungsinstituts, Dr. Reiner Klingholz, sprachen wir darüber, was die Lebensverhältnisse in Deutschland ausmacht, wie sehr sie sich von Region zu Region unterscheiden und was Politik und Stiftungen für bessere Lebensverhältnisse leisten können.
Herr Klingholz, am 22. August haben Sie die Ergebnisse der Studie „Teilhabeatlas Deutschland. Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen“ im Haus Deutscher Stiftungen präsentiert. Was genau verstehen Sie unter Lebensverhältnisse und inwiefern unterschieden sich diese zwischen den Regionen in Deutschland?
Wie gut sich in Deutschland leben lässt, hängt zu einem guten Teil von den Teilhabechancen ab. Also davon, welchen Zugang eine Person zum sozialen Gemeinwesen und seinen Errungenschaften hat: etwa zu bezahlbarem Wohnraum, zu einer der eigenen Qualifikation entsprechenden Arbeit, zu Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdiensten aber auch zu Freizeiteinrichtungen vom Schwimmbad bis zum Theater. Dabei gibt es innerhalb Deutschlands große Unterschiede. In Städten ist die Versorgung generell besser, auf dem Land sind die Wege weiter. Zudem unterscheiden sich die Regionen beim Einkommen der privaten Haushalte ebenso wie bei den Steuereinnahmen der Kommunen. Reiche Kommunen können ihren Bewohnern bessere Leistungen bieten als arme. Vor allem ländliche Gebiete im Osten bieten den Menschen oft unterdurchschnittliche Teilhabechancen. Aber auch in Städten, in Ost wie West, gibt es Quartiere, in denen die Menschen benachteiligt sind. Besonders häufig dort, wo der Strukturwandel seine Spuren hinterlassen hat, etwa im Ruhrgebiet.
In der Studie untersuchen Sie, ob sich die objektiven Lebensverhältnisse in der Selbstwahrnehmung und Zufriedenheit der Bewohner und Bewohnerinnen einer Region ausdrücken. Gibt es wirklich die meckernden Sachsen, die rheinländischen Frohnaturen und die stoischen Hanseaten?
Wir haben die Teilhabechancen zunächst anhand objektiv messbarer Kriterien ermittelt und daraus einen "Teilhabeatlas" erstellt. Und dann sind wir in 15 typische Regionen gefahren und haben dort mit den Menschen geredet, um zu erfahren, wie sie die unterschiedlichen Bedingungen subjektiv wahrnehmen. Dabei haben wir festgestellt, dass die meisten eine realistische Einschätzung haben. In ländlichen Gebieten wissen die Menschen, was dort möglich ist. Sachsen-Anhalt ist nicht München, aber das führt nicht zwingend zu Frustration. Die meisten haben uns erzählt, dass sie zufrieden sind, dort wo sie leben und dass sie die Vorteile sehen, wenn sie auf dem Land und nicht in der Stadt leben - weniger Verkehr, günstigere Mieten, ein besserer Kontakt zu der Nachbarschaft. Das ist die Zufriedenheit der Genügsamen, denen andere Dinge wichtiger sind als die U-Bahn um die Ecke oder die Einkaufsmöglichkeit vor der Tür. Nur in manchen Regionen, die man mit Fug und Recht als „abgehängt“ bezeichnen kann, ist auch der Frust groß, besonders dann, wenn sich keine Anzeichen der Verbesserung zeigen. Es gibt aber auch die Unzufriedenheit der Satten in eigentlich sehr gut gestellten Regionen. Sie messen ihr Wohlergehen daran, ob sich ihr gutes Leben immer weiter verbessert oder ob es im reicheren Nachbarort keine Schlaglöcher in der Straße gibt. Es ist schwer, es allen Recht zu machen.
Was sollte Ihrer Meinung nach getan werden, um die Lebensverhältnisse in Deutschland anzugleichen? Welchen Beitrag können Stiftungen leisten?
Der Staat sollte überall eine Grundversorgung garantieren, damit sich die Menschen entfalten können. Dazu gehört vor allem eine vernünftige Bildung und mittlerweile auch der Zugang zu einer Datenleitung. Wenn in manchen Regionen über zehn Prozent der jungen Menschen nicht mal einen Hauptschulabschluss erreichen, muss man von einer erheblichen Benachteiligung sprechen. Die Politik sollte die lokalen Gestaltungsspielräume erhöhen. Die Kommunen in benachteiligten Gebieten brauchen mehr Entscheidungs- und Finanzautonomie. Die Menschen in den Rathäusern wissen besser, wo der Schuh drückt, als in den Lands- oder Bundesministerien. Sie sollten, gemeinsam mit den Bürgern, entscheiden, ob sie das verfügbare Geld in den fünften Kreisel am Ortsrand stecken wollen oder in den Erhalt der Grundschule. Diese Verlagerung von Verantwortlichkeiten erhöht das Demokratieverständnis. Zudem entstehen viele Ideen von unten, wie sich wegbrechende Versorgungsleistungen durch innovative Ideen erhalten oder sogar verbessern lassen. Diesen Initiativen, oft aus der Zivilgesellschaft, stehen aber meist bürokratische Hürden im Weg. Unsinnige Hygienevorschriften für multifunktionale Dorfläden, versicherungsrechtliche Probleme bei Bürgerbussen oder privaten Mitfahrgelegenheiten. Statt diesen Initiativen das Leben schwer zu machen, sollten sie niedrigschwellig gefördert, beraten und der Austausch von Ideen propagiert werden. Gerade in diesem Feld gäbe es viel für Stiftungen zu tun.
René Thannhäuser
Alle Beiträge von René ThannhäuserZur Person
Dr. Reiner Klingholz arbeitet seit 2003 als Direktor und seit 2009 zusätzlich als Vorstand des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Bis 1983 war er als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hamburg und promovierte über makromolekulare DNS-Strukturen im Fachbereich Chemie. Klingholz arbeitete für Die Zeit, Geo und Geo Wissen und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Klingholz wurde mit verschiedenen Journalistenpreisen, darunter zwei Mal dem Journalistenpreis Entwicklungspolitik des Bundespräsidenten, sowie dem Buchpreis der Deutschen Umweltstiftung ausgezeichnet.
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