„Wir sollten mutig und demütig sein“

Carola Carazzone
Globales Engagement
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04.07.2019
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Carola Carazzone, Generalsekretärin des italienischen Stiftungsverbandes Assifero und seit Januar 2021 Vorsitzende von DAFNE, über die Entwicklung der italienischen Philanthropie und die Frage, welche Rolle Stiftungen für soziale Veränderungen spielen können.

Dublin an einem ungewöhnlich sonnigen Tag im Januar. Am Tag zuvor wurde Carola Carazzone in den Vorstand von DAFNE gewählt. Wir genießen die Morgensonne und unterhalten uns während einer geführten Tour durch die irische Hauptstadt. Beim Spaziergang durch den zentral gelegenen St. Stephen’s Green fragt Carola Carazzone unseren Stadtführer plötzlich: „Wann war die große Hungersnot in Irland, ‚The Great Famine‘, eigentlich genau?“ „The Great Famine in Ireland?“, fragt unser Reiseleiter zurück, ein irischer Gentleman Anfang sechzig, den die Frage offensichtlich überrascht. „Zwischen 1845 und 1849. Dies war die Zeit des Massenhungerns und der Auswanderung, es war die schlimmste Hungersnot in Europa im 19. Jahrhundert. Die Kartoffelernte in Irland – damals die wichtigste Nahrungsquelle – fiel in mehreren aufeinander folgenden Jahren aus. Daher wird auch oft von der „Potato Famine“, der Kartoffel-Hungersnot, gesprochen.“

Wir setzen unsere Stadtführung fort und Carola Carazzone erzählt mir: „Meine Großeltern haben große Armut und Kinderarbeit erlebt. Sie wuchsen in einer armen ländlichen Region in Norditalien auf. Ihre Geschichte und ihr Leiden während des Ersten Weltkrieges haben mein Leben stark beeinflusst. Das war ein wichtiger Grund dafür, mich leidenschaftlich für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte einzusetzen und demütig, aber auch mutig zu sein.“ Die Stadtführung geht irgendwann zu Ende, gefühlt hat unser Gespräch aber gerade erst begonnen. Deshalb verabreden wir uns erneut und nehmen uns Zeit für ein ausführliches Interview.

Stiftungswelt: Frau Carazzone, Sie haben 20 Jahre lang mit italienischen und internationalen Organisationen der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet, wobei Sie Ihren Schwerpunkt auf Menschenrechte legten. Wie sind Sie dazu gekommen, sich auf diesem Gebiet zu engagieren?
Carola Carazzone:
 Nachdem ich 15 Jahre lang in mehreren Menschenrechtsprojekten in unterschiedlichen Ländern in Afrika, Lateinamerika und Osteuropa sowie auf internationaler Ebene als Sprecherin von 88 italienischen NGOs gearbeitet hatte, kam ich im Mai 2014 zu Assifero. Ich wollte mich nie auf einzelne Rechtsfälle konzentrieren. Ich wollte wirklich auf sozialen Wandel und soziale Gerechtigkeit hinarbeiten. Als ich 16 war, leitete ich ein Peer-to-Peer-Bildungsprojekt mit Menschen mit Behinderungen in einer armen Nachbarschaft in meiner Heimatstadt. Im Alter von 18 Jahren fing ich an, mit Straßenkindern in Paraguay zu arbeiten. Dabei hatte ich mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und in unterschiedlichen Situationen zu tun. Ich habe gelernt, Menschen nicht als Objekte, die beschützt werden müssen, zu behandeln, sondern als aktive Treiber für soziale Veränderung. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Wie würden Sie den italienischen Philanthropie-Sektor beschreiben?
Carazzone: Italien ist ein Land, in dem der größte Teil des Reichtums vererbt wird. Philanthropie wurde jahrhundertelang von der katholischen Kirche geprägt, die soziale Dienste leistete und sich um die Armen, um ältere Menschen und um behinderte Kinder kümmerte. Reiche Familien waren es gewohnt, die Kirche finanziell zu unterstützen. In den letzten zehn bis 15 Jahren haben wir eine enorme Zunahme von Familienstiftungen erlebt. Das liegt daran, dass die jüngere Generation nicht mehr so eng mit der Kirche verbunden ist. Die Kirche verliert wahrscheinlich viel von ihrer sozialen Macht. Vor 30 Jahren hatten wir in Italien den Terrorismus der „Brigate Rosse“ (deutsch: Rote Brigade). Reiche Leute wurden angegriffen und waren Opfer von Entführungen und dergleichen. Jetzt haben wir bessere Bedingungen und eine neue Generation von Familien, die an der Gründung einer Familienstiftung interessiert ist.

Warum entschieden Sie sich für Assifero und inwiefern hat sich Assifero verändert, seitdem Sie Generalsekretärin sind?
Carazzone: Ich wollte einen Beitrag zu einer neuen Entwicklungsphase leisten, um zu versuchen, das Silo-Denken des Sektors zu überbrücken und einen sozialen Wandel herbeizuführen. Wir sind ein kleines, aber sehr effektives Team von vier Personen, das eine Reihe von Programmen in ganz Italien durchführt. Im Jahr 2014 hatte Assifero weniger als 50 Mitglieder, die meisten davon mit Sitz in Norditalien, mit nur einer Ausnahme. Heute hat Assifero fast 100 Mitglieder in 15 Regionen, wovon 20 Prozent in Süditalien sind. Wir haben unser Budget verdoppelt, verfügen über ein nachhaltiges Mitgliedsbeitragssystem und sind Teil verschiedener Multi-Stakeholder-Allianzen. Assifero hat sich von einer traditionellen philanthropischen Mitgliedschaftsorganisation zu einer anerkannten und gut vernetzten Führungsorganisation entwickelt. Die Führungsrolle ist mir sehr wichtig. Stiftungen sind nicht nur Geldautomaten, sondern unabhängige Organisationen, die eine Mission haben und etwas bewirken können.

Sehen Sie sich selbst als Changemakerin?
Carazzone (lacht):
Eigentlich liebe ich diesen Begriff sehr. Doch er ist zu einem Modewort geworden. Ich glaube, jeder kann ein Changemaker sein. Wir müssen dieses Konzept stärker demokratisieren. Man muss kein Held sein, man muss kein Genie sein, man muss kein Nobelpreisträger sein. Jeder kann ein Changemaker sein.

Sie wurden im Januar 2019 in den Vorstand von ­DAFNE gewählt. Wie hat DAFNE Ihrer Meinung nach zur Entwicklung von Assifero beigetragen?
Carazzone:
Durch die Arbeit in einem sehr vielfältigen, aber sehr konservativen Umfeld wie der italienischen institutionellen Philanthropie habe ich das DAFNE-Wissen und die Möglichkeiten von DAFNE wirklich ausgiebig dazu nutzen können, um meine Mitglieder zu begeistern. Dies erstreckte sich von der Strategieplanung über Verantwortlichkeiten bis hin zur Wirkungsmessung.

Welche Rolle sollte DAFNE in den nächsten Jahren spielen?
Carazzone:
Ich bin leidenschaftliche Europäerin. Ich denke, dass DAFNE eine wichtige Rolle spielen kann, wenn es darum geht, verschiedene Nationen miteinander zu verbinden und der Vielfalt der europäischen Philanthropie Bedeutung zu verleihen. Eine Rolle, die jedoch auch zum besseren Miteinander und zur besseren Einbindung beitragen kann. Ich bin auch über das europäische Peer-to-Peer-Netzwerk Ariadne und die European Community Foundation Initiative (ECFI) auf dem Gebiet der europäischen Philanthropie tätig, und ich denke, dass das breite und tiefe Verständnis von DAFNE auf diesem Gebiet sehr wichtig ist. Es geht nicht nur darum, Fördergelder bereitzustellen, sondern vielmehr um die Anerkennung der Rolle, die die Stiftungen und die philanthropischen Institutionen als Interessenvertreter, als treibende Kraft des Wandels und als Akteure der Zivilgesellschaft spielen. DAFNE ist daher bei der Unterstützung der Zivilgesellschaft in Europa sehr wichtig und sorgt dafür, dass die Philanthropie wirkungsvoller wird.

In Ihrem TEDx Talk „The Third Sector Has To Change The World” („Der dritte Sektor muss die Welt verändern“) haben Sie an italienische Spender und Stiftungen appelliert, in zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteure zu investieren und strategische Unterstützung zu leisten, anstatt Projektfinanzierungen zu verteilen. Wie können Stiftungen zur Entwicklung der Zivilgesellschaft beitragen?
Carazzone:
Wir müssen den systemischen Wandel fördern. Italienische NGOs sind schwach und sehr von Projektfördermitteln abhängig. Da sie keine Kernfinanzierung erhalten, können sie nicht in Personal, ihre Kommunikation nach außen, ihr Fundraising oder ihre Digitalstrategie investieren. Das stereotype Mantra besagt, dass die Gemeinkosten nicht mehr als fünf bis sieben Prozent des Gesamtbudgets von NGOs betragen dürfen. Das hat große Auswirkungen auf die Kapazitäten und darauf, was NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen langfristig erreichen können. Damit habe ich mich beschäftigt und am 22. März letzten Jahres in der Zeitung „Il Giornale delle Fondazioni“ einen Aufruf zum Handeln veröffentlicht, in dem ich die italienischen philanthropischen Organisationen und Stiftungen dazu aufgefordert habe, Maßnahmen zu ergreifen.

Philanthropie nimmt gerade heute immer neue Formen an. Die Initiative Next Philanthropy, die vom Bundesverband Deutscher Stiftungen 2018 ins Leben gerufen wurde, geht neuen Entwicklungen und Trends der globalen Philanthropie auf die Spur.  Wir als italienischer Verband sollten uns an dieser Initiative beteiligen. Das würden wir wirklich gerne in Bewegung setzen.

Italienische Bürgerstiftungen repräsentieren ein sich schnell entwickelndes Gebiet der Philanthropie in ihrem Land. Wie gehen sie gesellschaftliche Herausforderungen an und welche Auswirkungen haben sie auf die traditionellere italienische Philanthropie?
Carazzone: Die erste Bürgerstiftung in Italien feiert in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen. Heute haben wir 38 Bürgerstiftungen in Italien. Im Süden des Landes gibt es mindestens fünf Bürgerstiftungen und weitere werden gerade gegründet. Bürgerstiftungen schauen über den Tellerrand hinaus. Sie sind bereit, ihre Kapazitäten für soziale Zwecke einzusetzen und ihre Einnahmen der örtlichen Gemeinschaft zurückzugeben, so wie es beispielsweise die Bürgerstiftung Messina in Sizilien tut. Sie können auf ihren lokalen Kapazitäten aufbauen. Hierbei handelt es sich um ein völlig neues Förderportfolio. Es geht nicht nur darum, Zuschüsse zu gewähren, sondern auch darum, finanzielle Garantien anzubieten, eine Führungsrolle zu übernehmen und Beziehungen aufzubauen.

Sie sind sehr erfolgreich in Ihrem Beruf und blicken schon jetzt auf eine steile Karriere zurück. Was würden Sie jungen Frauen empfehlen, die auf dem Gebiet der Philanthropie arbeiten?
Carazzone: Wie erreicht man sozialen Wandel? Frauen müssen mutig sein und Präsenz zeigen, wir müssen unseren eigenen Weg gehen. Wir müssen uns auf Vorstandsposten bewerben. Es ist immens wichtig, die Initiative zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen. In einem Seminar sich zu Wort zu melden und öffentlich zu sprechen, ist manchmal so schwierig, weil wir zum Zuhören erzogen wurden. Das ist ein echtes Problem. Ich bin eine starke Verfechterin kollektiver Führung und kollektiver Intelligenz. Thomas Malone, Professor am Massachussets Institute of Technology (MIT), hat ein Buch über den Wert kollektiver Intelligenz geschrieben. Seiner Meinung nach gibt es drei Voraussetzungen für kollektive Intelligenz:

  1. Die Gruppe ist vielfältig.
  2. Die Gruppe ist in der Lage, zu kommunizieren und kollektive Entscheidungen zu treffen.
  3. Es gibt einen großen Frauenanteil. 
Über die Gesprächspartnerin

Im Januar 2021 wurde die Menschenrechtsanwältin Carola Carazzone zur neuen Vorsitzenden des europäischen Stiftungsnetzwerkes DAFNE gewählt. Seit Mai 2014 ist sie Generalsekretärin von Assifero, dem italienischen Dachverband von Stiftungen und Förderorganisationen.

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