Der Schlüssel zur Inklusion liegt in der Begegnung

Mädchenschulklasse 1905 – arbeiten in Kleingruppen Dieses frühe Foto zeigt eine Mädchenschulklasse. Schon 1905 wurde die Schule von antonius eingeweiht. In der Zeit davor wurden Kinder mit Behinderung oft gar nicht unterrichtet. Besonders auf den Dörfern hatte Frau Rang erlebt, dass sie oft verwahrlost vor sich hin lebten und auch ausgenutzt wurden. Ihre christliche Überzeugung, dass jeder Mensch gottgewollt sei, veranlasste sie, ihnen ein würdigen Lebensrahmen zu bieten und Strukturen der Bildung und Berufsausbildung aufzubauen

Studie zum Jubiläum: antonius wirkt

„Der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft führt über die Begegnung“, sagt Rainer Sippel, Vorstand der Bürgerstiftung antonius. „Durch Begegnungen zwischen den Menschen entstehen Beziehungen, und aus Beziehungen heraus können sich Sichtweisen verändern.“ Seit jeher bietet antonius deshalb Räume und Gelegenheiten, um mit anderen Menschen – ob mit oder ohne Behinderungen – in Kontakt zu kommen. Etwa am Arbeitsplatz, in inklusiven Gastronomien und Cafeterien, durch ein Ehrenamt, beim Einkaufen, auf Veranstaltungen oder im Rahmen der „Leben und Arbeiten“-Vereine in den Gemeinden.

Wer sich auf Begegnungen und in der Folge auf Beziehungen einlässt, der profitiert auch persönlich: Zu dieser Erkenntnis kommt die Studie, die antonius als eine Art Zwischenbericht zum 120. Stiftungsjubiläum in Zusammenarbeit mit der Hochschule Fulda erstellt hat. Begleitet und unterstützt durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fachbereichs Sozialwesen wurden Experteninterviews nach aktuellen sozialwissenschaftlichen Standards geführt und ausgewertet. Befragt wurden dabei Personen, die in direktem Zusammenhang mit antonius stehen – ob als Ehrenamtliche, Bewohner oder Mitarbeitende sowie als Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. In einem Lesebuch, das antonius jetzt herausgebracht hat, sind alle zwanzig Interviews veröffentlicht. Die Befragten geben aus verschiedenen Blickwinkeln und zum Teil mit sehr persönlichen Worten Antworten darauf, wie selbstverständlich das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen oft bereits ist und wo es noch Defizite gibt. Die Gespräche sind Beleg dafür, wie viele wertvolle Beziehungen bereits entstanden sind, die für beide Seiten ein Gewinn sind.

„Zum Jubiläum wollten wir uns nicht auf die Schulter klopfen, sondern fragen: Sind die Wege, die wir gehen, wirksam? Werden sie verstanden? Erfüllen wir unseren Stiftungsauftrag?“, erläutert Rainer Sippel. „Die wissenschaftliche Auswertung der Interviews steht aktuell noch aus, erste Ergebnisse und auch ein Blick in die Interviews zeigen jedoch: Die Gesellschaft hat begonnen, zusammenzurücken, und dazu trägt antonius maßgeblich bei. Wir sind schon nah dran an unserer Vision im Sinne unserer Gründerin – das bestärkt uns natürlich sehr. Doch es liegt auch noch viel Weg vor uns, und der Inklusionsgedanke ist noch nicht fest in der gesamten Gesellschaft verankert.“ Zugleich erschweren äußere Rahmenbedingungen wie das neue Bundesteilhabegesetz den erfolgreichen Weg des Netzwerks. Zwar sichert das Gesetz den persönlichen Assistenzbedarf der Einzelnen, finanzielle Mittel für Veranstaltungen, Gemeinschaftseinrichtungen und präventive Leistungen sind jedoch infrage gestellt – also genau die Maßnahmen, die Begegnungen ermöglichen. Eine weitere Herausforderung, die antonius meistern muss und meistern wird.

Aktion antonius sagt Danke

In all den Jahren haben die Fuldaer Bürgerschaft und antonius gemeinsam ein Netzwerk der Unterstützung geschaffen und damit die Region verändert. Vielfältige Projekte konnten umgesetzt werden, die Menschen ermutigt und nach vorne gebracht haben. Als Dankeschön dafür startet antonius die Aktion „Danke, Fulda!“ – mit ganz persönlichen Erfolgsgeschichten aus dem gesamten Netzwerk, die auf der antonius Website sowie in diversen anderen Medien veröffentlicht werden. 

Berufswegekonzept: Jeder Mensch hat Talente und ein Recht auf Arbeit

Eine Erfolgsgeschichte und ein gelungenes Beispiel für Inklusion ist das bundesweit einmalige Berufswegekonzept von antonius, das das Unternehmernetzwerk Perspektiva und die Arbeitsschule Startbahn gemeinsam entwickelt haben. Ziel ist es, junge Männer und Frauen – die es aus eigener Kraft nicht in Ausbildung oder Arbeit schaffen – auf den Beruf vorzubereiten und individuell zu ihren Stärken passende Arbeitsplätze zu finden oder diese einzurichten. Ganz im Sinne der Gründerin Maria Rang ist auch hier die Grundannahme, dass jeder Mensch Talente hat, die gefördert und ausgebildet werden können. Neben dieser veränderten Haltung sind die gute Vernetzung von Schulen, Fördereinrichtungen und Unternehmen sowie die Beratung interessierter und beteiligter Betriebe Schlüssel zum Erfolg. Das Berufswegekonzept ist in dieser Form nicht nur eine Besonderheit in Deutschland, es hat auch bereits viele Menschen in eine erfüllende Arbeit gebracht und damit unabhängig von staatlicher Unterstützung gemacht. Wer Arbeit hat, erlangt Selbstständigkeit und gibt der Gesellschaft etwas zurück – auch monetär durch Abgaben und Steuern. Zugleich profitiert die lokale Wirtschaft von passend ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und kann so dem Fachkräftemangel nachhaltig entgegenwirken. Ein Gewinn für unsere Region!

Das Lesebuch „Auf dem Weg zur Inklusion“ zum 120. Jubiläum ist in allen Cafés und Verkaufsstellen des Netzwerks für eine Schutzgebühr von 2 Euro erhältlich.

Infokasten: 120 Jahre Erfahrung, die bewegt

Vor exakt 120 Jahren legte eine Fuldaer Bürgerin das Samenkorn für eine Vision, die heute bei antonius Tag für Tag mit Leben gefüllt wird: Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch in seiner Individualität akzeptiert ist, in der er sich mit seinen Stärken und Schwächen einbringen und in vollem Umfang teilhaben kann. 1902 gründete Maria Rang im christlichen Geist die heutige Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch und eröffnete das „Antoniusheim“. Und zwar nicht als „Verwahranstalt“ für Menschen mit Behinderungen, sondern als Institution der Aus- und Weiterbildung sowie als erfüllendes Zuhause. Zur damaligen Zeit war das revolutionär! Die Vision Maria Rangs bestimmt bei antonius heute noch die Haltung, die Sichtweisen und den Umgang als Gemeinschaft. Aus dem ersten Samenkorn ist im Laufe der Jahrzehnte ein vielfältiges, buntes und offenes Netzwerk mit und im Auftrag der Fuldaer Bürgerschaft gewachsen, das Inklusion voranbringt und Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen fördert.

„Inklusivste Stadt Deutschlands“

Im Jahr 2015 erhielt Fulda vom Rekord-Institut für Deutschland die Auszeichnung „Inklusivste Stadt Deutschlands“. Der Grund: In keiner anderen deutschen Stadt gibt es mehr Beispiele für gelungene Inklusion als hier. Das war das Ergebnis einer Stadtwette zwischen Fuldas Oberbürgermeister a.D. Gerhard Möller und Rainer Sippel von antonius. Die Stadt präsentierte 131 Beispiele für gelebte Inklusion aus den Kategorien Arbeit, Bildung, Freizeit, Sport und Kultur und wurde so zum Wettsieger.

 

Hintergrund: Die Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch

Die Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch bildet als Trägerstiftung das Dach des aus verschiedenen Gesellschaften, Betrieben und Kooperationen bestehenden Netzwerks. Sie wurde 1902 von der Fuldaer Bürgerin Maria Rang unter dem Namen St. Lioba-Stiftung gegründet, seit 2021 wirkt sie unter ihrem neuen Namen. Sie verwaltet die finanziellen Mittel und achtet darauf, dass der Stiftungsauftrag erfüllt wird. Vier Schwestergesellschaften tragen als gemeinnützige GmbHs gemeinsam mit der Bürgerstiftung zur Verwirklichung des Stiftungsauftrags bei.

Zurzeit leben bei antonius ca. 320 Menschen in unterschiedlichen Wohnformen am Hauptgelände, in der Stadt und im Landkreis Fulda. Das Netzwerk bietet insgesamt rund 1.250 Arbeits- und 80 Ausbildungsplätze für Menschen mit und ohne Behinderungen und ist damit einer der größten Arbeitgeber der Region Fulda. Mehr als 290 Ehrenamtliche, etwa 70 junge Menschen im Freiwilligendienst und 250 Praktikanten engagieren sich bei antonius. Außerdem besuchen mehr als 150 Kinder und Jugendliche die verschiedenen Schulen. Das Netzwerk wird von bürgerlichem Engagement getragen – es ist wirtschaftlich und politisch unabhängig, konfessionell und parteipolitisch ungebunden.

Kontakt

Sebastian Bönisch

0661 1097204

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