Plädoyer: Mehr Wirken für die SDGs
Die Zeit läuft
Stiftende und Stiftungen gestalten seit vielen Jahrhunderten die Gesellschaft mit. Überall begegnen wir den Zeugnissen ihrer Wirkung. Welch ein Spannungsbogen, den Stiftungen schlagen können! In der Regel „auf Ewigkeit“ angelegt, kann es ihnen gelingen, eine langfristige Perspektive mit der Dringlichkeit der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu verbinden. Vielleicht ist es eben diese Spannbreite, die ganz spezifische Lösungsansätze für die Herausforderungen der Gegenwart ermöglicht.
Die Satzung bildet den Rahmen für das Handeln von Stiftungen. Hier sind die Zwecke, manchmal auch Strategien für den Einsatz der Ressourcen, niedergelegt. Bei den rechtsfähigen Stiftungen des bürgerlichen Rechts ist dieser Kern der Stiftungsarbeit – wenn überhaupt – so nur unter sehr engen, qualifizierten Voraussetzungen veränderbar. Schon die Lektüre von einigen Dutzend Satzungen reicht aus, um festzustellen, dass es so viele unterschiedliche Ziele wie Ansätze gibt.
In diesem Report geht es vor allem um das Verhältnis von Stiftenden und Stiftungen zu einem ganz anderen Dokument. Es unternimmt den Versuch, die drängenden Herausforderungen der Welt in einige wenige Sätze zusammenzufassen: Die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen sind seit ihrer Formulierung 2015 zu einer Art Standard für alle geworden, die gemeinsam für eine bessere Zukunft arbeiten wollen. Nach und nach erobern die 17 Ziele mit ihrer einprägsamen Gestaltung die Programme der öffentlichen Hand, die Jahresberichte von Unternehmen, die Analysen von Wissenschaftlern und Beratern.
Doch was trägt das Stiften, was tragen Stiftungen zur Umsetzung der SDGs bei? Kann man, soll man ihre Vielfalt überhaupt auf den gemeinsamen Nenner der Nachhaltigkeitsziele bringen? Und inwiefern verändern die Dringlichkeit, die Globalität oder die Mehrsektoralität das Potenzial des Stiftens?
Mit diesen Fragen steht der Stiftungssektor nicht allein da. Die Nachhaltigkeitsziele fordern Politik, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen gleichermaßen auf, ihre Wirkungen zu überprüfen, an gemeinsamen Zielen auszurichten, sie messbar zu machen, neue Kooperationen zu schmieden und zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. Das erforderliche Umdenken folgt dabei keiner statischen Analyse, sondern wurde schon von der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro als „Suchbewegung“ beschrieben. Und überall haben wir es mit unvollkommenen Daten, Abwägungen und Wirkungsunsicherheiten zu tun.
Das Potenzial des Stiftens
Wie könnte es weitergehen? Wie groß das Potenzial des Stiftens noch ist, lässt sich wenigstens ansatzweise anhand einer Gegenüberstellung zeigen: Von der wichtigen Ausnahme der Stiftungen der öffentlichen Hand abgesehen, speisen sich Stiftungsvermögen in erster Linie aus (größeren) privaten Vermögen. Mit einem Beraterteam hat der Bundesverband Deutscher Stiftungen die historische Entwicklung der Vermögen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mit der Entwicklung der dokumentierten Stiftungsvermögen (in Stiftungen des bürgerlichen Rechts) verglichen.
Das Ergebnis: Die Stiftungsvermögen wuchsen in der ersten Dekade des Jahrtausends bis etwa zur großen Finanzkrise klar korreliert zu den privaten Topvermögen. Diese Korrelation ist in den vergangenen Jahren weitgehend abgebrochen. Die Entwicklung privater Topvermögen ist unvermindert dynamisch, wohingegen die Vermögen der Stiftungen kaum noch real, also inflationsbereinigt, gewachsen sind. Rechnerisch gibt es dabei drei unterschiedliche Effekte: Erstens haben sich aufgrund niedriger Erträge vieler Stiftungen die Vermögen seltener aus sich heraus vermehrt, zweitens sind wenige größere Zustiftungen dokumentiert, und drittens sind in den vergangenen Jahren weniger große Stiftungen neu gegründet worden.
Auch wenn der Versuch, diese Differenz zu beziffern, aufgrund der doppelt herausfordernden Datenlage bezüglich Privatvermögen und Stiftungsvermögen ausgesprochen schwierig ist, ist eine Schätzung möglich: Würden Vermögende im obersten Dezil in Deutschland bis 2023 prozentual so viel ihres Vermögens in Stiftungsvermögen übertragen wie in den Jahren von 2000 bis zur Finanzkrise und würden bestehende Vermögen in Stiftungen so wirtschaften wie der Durchschnitt der besten Stiftungsanleger, dann wären 20 bis zu 40 Milliarden Euro mehr Vermögen möglich.
Statt über die genaue Summe zu streiten, lohnt sich eher der Blick auf die Faktoren, die zur Entstehung dieser sogenannten Stiftungslücke geführt haben. Zu den tieferen Gründen der relativ sinkenden Mobilisierungskraft der Stiftungen wären weitere Analysen wichtig und wünschenswert. Eines ist aber klar: Das Stiften hat eine gewaltige Chance, aus der positiven Vermögensentwicklung des vergangenen Jahrzehnts noch deutlich an finanzieller Schlagkraft zu gewinnen, sei es mit neuen Sinnangeboten, einer gewinnenden Kommunikation oder einem modernisierten rechtlichen Rahmen.
Dafür wäre es nach Meinung des Autors aber mindestens erforderlich, in drei Richtungen weitere Überlegungen anzustellen: Wie können erstens bestehende Stiftungsvermögen ertragreicher wirtschaften, um die Vermögen zu mehren und damit auch Zustiftungen ein attraktiveres Wirkungsangebot zu machen? Wie können zweitens wirkungsorientierte Anlagestrategien dazu beitragen, den Stiftungszweck zu verwirklichen? Mindestens theoretisch ist jedenfalls der Hebel, auch aus dem Vermögen die Stiftungszwecke zu verfolgen, deutlich größer als die Beschränkung darauf, die Zweckverwirklichung ausschließlich aus den Erträgen der Vermögensverwaltung heraus zu betreiben. Dazu gibt es sowohl in Deutschland als auch international mittlerweile zahlreiche Beispiele, die der Bundesverband Deutscher Stiftungen in seinem Projekt „Kapital und Wirkung“ seit 2017 auch dokumentiert hat. Und wie könnte drittens eine offensiver werbende Kommunikation zum Stiften dazu beitragen, die Wissenslücken bei potenziell Stiftenden zu schließen und die Vielfalt der Möglichkeiten sichtbar zu machen?
Eine konstruktive Argumentation mit diesem Stiftungspotenzial könnte indes auch eine wichtige Rolle in der Interessenvertretung spielen, etwa im Werben für flexiblere Rahmenbedingungen für die Vermögensanlage in Stiftungen, oder sogar im Eintreten für neue Modelle wie etwa dem „Stiften auf Zeit“. Dabei werden Vermögenswerte auf Zeit in ein Stiftungsvermögen übertragen, um dort Erträge zu erwirtschaften, und können danach wieder in ein Privatvermögen zurück übertragen werden.
Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen können dabei eine positive, aktivierende Rolle spielen. Die Dringlichkeit globaler Herausforderungen, kombiniert mit der Chance auf eine transparente Darstellung stifterischer Beiträge zu den Nachhaltigkeitszielen sowie einen gut kommunizierten und rechtlich aktualisierten Rahmen für das Stiften – das wäre eine Konstellation, die gute Chancen hätte, auch einen Teil des anstehenden intergenerationellen Wohlstandstransfers für das Stiften zu aktivieren. Dieser ist um ein Vielfaches größer als das Potenzial des Stiftens, das sich aus der oben genannten Rechnung ergäbe.
Stiften auf der Höhe der Zeit
Mit der Verabschiedung der SDGs haben die Staaten der Welt einen doppelten Paradigmenwechsel eingeleitet: Statt wie zuvor um Entwicklungsziele für einen Teil der Welt, geht es nun um geteilte Ziele für alle. Diese Ziele richten sich zudem nicht in erster Linie an Regierungen, sondern bieten einen breiten Rahmen, in dem jede Bürgerin, jeder Bürger und einzelne Organisationen ihre Beiträge verorten können.
Wie kann, wie muss sich das Stiften zu den SDGs verhalten? Auf den ersten Blick scheinen Stiftungen mit ihrer Orientierung am Gemeinwohl es besonders leicht zu haben, einen Beitrag zu den SDGs zu leisten. Mit ihrer Vielfalt an Organisationsformen, Kulturen und Arbeitsschwerpunkten sind sie geradezu ideal geeignet, wichtige Akteure auf der Suche nach nachhaltigen Lösungen zu sein. Es steht ihnen frei, unterschiedlichste Netzwerke zu bilden, auch ungewöhnliche Ideen zu fördern und mit großer Unabhängigkeit auch dort tätig zu werden, wo Regierungen und Unternehmen mit ihren jeweiligen Logiken nicht wirken können oder wollen. Entscheidend kann dieses Stiftungsprofil vor allem dort werden, wo mehrere Probleme miteinander verwoben sind: der Klimawandel und die Krise liberaler Demokratien, Armutsmigration sowie Menschen- und Frauenrechtsarbeit, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Stiftungen können ihre Beiträge außerdem von Anfang an breit aufstellen und sozusagen „von unten“ aus der Gesellschaft herausarbeiten.
Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass die Sache ganz so einfach nicht ist. Stiftungen sind mit einem hohen Maß an Autonomie und Eigenwilligkeit ausgestattet, die sie ihrem Stiftungszweck verdanken und die manchmal sehr spezifische Lösungswege für Herausforderungen nahelegen. Stiftungen mit dauerhaft zu erhaltendem Vermögen müssen zudem in verantwortungsvoller Weise stetig einen Grat ausloten: zwischen der Mobilisierung von Ressourcen und den damit möglicherweise einhergehenden Risiken der Kapitalanlage einerseits sowie der Sicherung des Kapitals andererseits. Darüber hinaus liefert das in Deutschland geltende Gemeinnützigkeitsrecht einen ambivalenten Rahmen: Einerseits sind als gemeinnützig anerkannte Stiftungen steuerlich begünstigt, andererseits ist die Umsetzung von wirtschaftlichen Lösungen nur in bestimmten Grenzen möglich.
Umso entscheidender wird es für Stiftungen, ihre Einzigartigkeit im Konzert mit anderen Stimmen, in bewusster Teamarbeit mit anderen Akteuren, einzubringen, und zwar als überparteiische, unabhängige und mit hohem gesellschaftlichen Vertrauen ausgestattete Orte der gemeinsamen Problemlösung, als Magnete für Fachexpertise und Vermögen, als Frühphasen- und Personenförderer im Vorfeld anderer Geldgeber und Investoren.
Richtet man den Blick über Stiftungen im engeren Sinne der gemeinnützigen Stiftungen bürgerlichen Rechts hinaus auf die vielen und immer vielfältigeren Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements, so verändert sich das Bild erneut: Nie zuvor gab es so viel privates Vermögen, nie zuvor so viel Engagementpotenzial, nie zuvor ein so breit geteiltes Verständnis für die Dringlichkeit der globalen Herausforderungen.
Es kann gelingen, mit engagierten neuen Stiftenden, den vielen erfahrenen Stiftungen, einer unterstützenden Politik und vielen weiteren Akteuren nicht nur großes zusätzliches Engagement zu mobilisieren, sondern dieses auch entlang der SDGs in eine Wirkung zu lenken, die kein anderer und kein einzelner Akteur in dieser Form zu entfalten vermag.
Stiften ist und bleibt eine wesentliche Antwort auf die sich aktuell stellenden Herausforderungen. Schließlich zeigt die lange Geschichte des Stiftens, dass es sich immer wieder neu zu erfinden und zu erweitern versteht. Bei der Bewältigung der SDGs wird es wie schon so oft zuvor auf eine mutige Generation von Engagierten ankommen, die über den Tag hinausdenkt und das riesige Potenzial des Stiftens hebt.
Machen wir uns gemeinsam an die Arbeit!