Vielfalt ist unsere Natur

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© Thomas Stephan
03.01.2019
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Genau 101 Gummistiefel. Mit immer gleichem Abstand in Reih und Glied seitwärts an einer dunklen Holzwand befestigt, über mehrere Quadratmeter hoch bis an die Decke. Alle eierschalenweiß, glänzend, sauber. Bis auf einen einzigen, der mit seinen bunten Streifen sofort ins Auge springt.

Wer die ehemalige Hofremise – früher ein Unterstellplatz für Landmaschinen – auf Gut Herbigshagen betritt, ist zuerst mit dieser besonderen Installation konfrontiert. Sie soll einstimmen auf das Thema der Ausstellung, die in dem Gebäude untergebracht ist: Unter dem Titel „Es lebe die Vielfalt“ dreht sich alles um den Wert biologischer Diversität, also einer reichen Flora bzw. Fauna sowie unterschiedlichster Lebensräume.

An den einzelnen Stationen der Ausstellung können Besucher erfahren und vor allem selbst entdecken, was für Lebensräume und Biotope es hierzulande überhaupt gibt und wie Spezialisten unter den Tieren und Pflanzen dank kreativer Lösungen auch die schwierigsten unter ihnen für sich erobern. In der Abteilung „Aktion ungleich Reaktion“ wird verdeutlicht, wie weitreichend menschliches Handeln – aber auch Nichthandeln – die Natur verändern kann. Besonders eindrücklich ist die „Schaltzentrale“, in der Besucher austesten können, wie sich verschiedene Eingriffe in die Natur direkt auswirken. Und genau darum geht es vor allem auf Gut Herbigshagen – Wissensvermittlung, die die Natur in all ihren bunten Facetten erlebbar macht, den Wert biologischer Diversität aufzeigt und im Sinne kommender Generationen für eine nachhaltige Nutzung wirbt.

Der Gutshof, am Rande des Harzes in der Nähe von Duderstadt gelegen, ist ein Projekt der Heinz Sielmann Stiftung und hat sich mit seiner Arbeit in den letzten Jahren zu einem Anziehungspunkt in der Region entwickelt – bis zu 100.000 Gäste kommen jedes Jahr in das Natur-Erlebniszentrum. Die Ausstellung in der Remise ist dabei nur ein kleiner Teil des Angebots vor Ort. Rund zehn verschiedene Gebäude verteilen sich über das weitläufige und mit vielen Bäumen bewachsene Gelände; es finden sich Werkstätten, eine Imkerei, ein interaktiver Naturlehrpfad, Streuobstwiesen und Weideflächen, ein Feuchtbiotop, ein Damwildgehege und – wie es sich für einen Bauernhof gehört – auch Stallungen. Dort werden alte Nutztierrassen, die sonst in der konventionellen Landwirtschaft keinen Platz mehr haben, gehalten und damit für die Zukunft erhalten. Dazu gehören zum Beispiel das Harzer Rote Höhenvieh, Bentheimer Schweine oder Thüringer Waldziegen.

Dazu gibt es noch ein Wohnhaus mit großer Küche, Aufenthaltsraum und Betten für 44 Gäste. Pro Jahr verbringen hier rund 30 Schulklassen je eine Woche. Denn Gut Herbigshagen ist auch ein außerschulischer Lernort und als Regionales Umweltbildungszentrum des Landes Niedersachsen ein wichtiger Partner für schulische Projekte. Dazu gibt es unter dem Titel „Tage voller Vielfalt“ – für Jugendgruppen wie für Erwachsene – ein umfangreiches Angebot von ganz- oder halbtägigen Aktivitäten und Themenwanderungen.

Das Haupthaus des alten Hofes – dessen Ursprünge bis ins späte Mittelalter zurückreichen – besteht vor allem aus Büros. Wer durch das Eingangsportal in den Flur kommt, stößt allerdings wieder auf Gummistiefel. Aber statt glänzend weiß sind diese hier grün und braun, daneben stehen Wanderstiefel und robuste Outdoorschuhe – an allen klebt ein wenig Erde, Lehm oder Gras. Ganz klar, obwohl hier Verwaltung und Sekretariat von Stiftung und Gut untergebracht sind, wird nicht nur an Schreibtisch und Computer, sondern auch draußen gearbeitet. Bei den Tieren, auf den Weiden oder eben bei einer Tour übers Gelände mit Tagesgästen oder Schulklassen.

Hier trifft man auch Rómulo Aramayo Schenk. Der Diplom-Biologe ist seit 2001 auf Gut Herbigshagen und Projektleiter der Veranstaltungsreihe „Tage voller Vielfalt“. Im Gespräch mit dem Experten für Biodiversitätsbildung wird sehr schnell klar, was diesen Ort von einem normalen Bauernhof oder gar Streichelzoo unterscheidet: eine klare Haltung und eine pädagogische Ausrichtung, die aber nicht schulmeisterlich daherkommt. „Wir legen Wert darauf, unsere Gäste – Erwachsene, aber vor allem auch die Jüngeren – dort abzuholen, wo sie sind, ganz ohne Zwang. Wenn Kinder zum Beispiel Angst vor Spinnen haben, bringt es nichts, ihnen zu erklären, wie harmlos die Tiere sind oder wie nützlich.“ Es werde eher versucht, Begeisterung für die Achtbeiner vorzuleben und so Faszination für Spinnen zu wecken – was dann Hemmungen abbaue.

„Das Problem ist, dass die Anhäufung von Umweltwissen nicht automatisch zu entsprechendem Handeln führt. Sondern dieses Wissen muss eingebettet sein in einen Rahmen von Werten und Normen. Doch diese Werte dürfen natürlich nicht mit erhobenem Zeigefinger postuliert werden, sondern müssen vorgelebt werden – und das geschieht im Rahmen der Wanderungen, Veranstaltungen oder Vorträge“, erklärt Aramayo Schenk weiter. „Authentizität ist hier ein wichtiger Faktor.“

Entscheidend ist auch der direkte Kontakt mit den Haus- und Nutztieren, den Rindern, Ziegen, Kaninchen oder Schweinen in den Ställen oder auf den Wiesen rund um die Hofanlage. „Bei Schulklassen hat teilweise die Hälfte der Kinder noch nie ein lebendes Schaf gesehen, geschweige denn angefasst oder gefüttert“, erzählt Ursula Schäfer, Leiterin des Schulbauernhofes. Und wenn die Jugendlichen mit den Tieren in direktem Kontakt seien, sie füttern, den Stall ausmisten oder auch mit den Eseln eine Wandertour unternehmen, „sind das oft die intensivsten Erlebnisse“.

Zum Programm auf dem Schulbauernhof gehört nicht nur der direkte Umgang mit den Tieren. Die Schüler können sich auch handwerklich ausprobieren. In angeleiteten Kleingruppen und in Zusammenarbeit mit lokalen Handwerkern gibt es die Möglichkeit zu schmieden, Seile zu flechten oder auch einen eigenen Rechen zu schnitzen. Wenn die Jahreszeit passt, kommt das hölzerne Werkzeug gleich auf der Streuobstwiese zum Einsatz und aus den gesammelten Äpfeln können die Kinder danach selbst Saft pressen.

So weckt der Bauernhof das Verständnis für ökologische Kreisläufe. „Mit unseren Veranstaltungen können wir natürlich nicht die Welt retten“, weiß Aramayo Schenk. „Aber wir können bei einzelnen Menschen Impulse setzen, sodass sie Aspekte unsere Umwelt neu ins Verhältnis setzen und dann selbst entsprechende Schlüsse ziehen.“ Neben dem Hauptgebäude des Gutes, in dem die Stiftung auch ihren Hauptsitz hat, findet sich ein Bauerngarten mit Kräutern und Heilpflanzen, der in seiner Geometrie und seiner Mischung aus Zier- und Nutzpflanzen gar nicht zu einem ursprünglich landwirtschaftlichen Anwesen zu passen scheint: in der Mitte ein kleines Rondell, dazu die Beete in geschwungener Symmetrie angelegt, eingefasst von kleinen Buchsbaumhecken. Eine Anordnung, wie man sie – natürlich größer – eher neben einem Schloss erwartet hätte.  

Tatsächlich aber ist diese Einteilung typisch für norddeutsche Bauerngärten: Die ländliche Bevölkerung hatte sich zum Ende des Mittelalters zunehmend an der Gestaltung von Kloster- und Burggärten orientiert. „Zudem wollten viele Familien gerne den Eindruck erwecken, wohlhabend zu sein, und demonstrierten deshalb mit ihrem Bauerngarten und seinen Blumen, dass der Anbau von Nutzpflanzen entbehrlich ist“, erklärt eine kleine Infotafel neben den Beeten. Diesen kleinen Kräutergarten mit seiner besonderen Struktur kann man als Ausdruck dafür sehen , wie sehr sich das Team der Heinz Sielmann Stiftung darum bemüht, Gut Herbigshagen zu einem Ort zu machen, der Charakter hat, sich aber auch in die Umgebung einfügt. 

Am Nordrand des Geländes von Gut Herbigshagen steht auch noch eine Kapelle. Das kleine Gebäude ist benannt nach Franz von Assisi, dem Schutzpatron der Tiere und des Naturschutzes. Hier wurde Heinz Sielmann 2006 beigesetzt. Der beliebte Dokumentarfilmer und seine Frau Inge hatten ihre Stiftung im Jahr 1994 gegründet und die Übernahme des Guts war 1995 das erste große Projekt.

Die Lage des Hofes knapp 500 Meter vor der alten innerdeutschen Grenze war perfekt – auf beiden Seiten der Sperr- und Zaunanlagen hatten sich über die Jahre viele seltene Tier- und Pflanzenarten erhalten können. Heute ist das „Grüne Band“ eines der wichtigsten Naturschutzgroßprojekte in Deutschland. Darüber hinaus kaufte die Stiftung, die sich fast nur über Spenden finanziert, immer wieder große Landschaften, um sie zu erhalten und dort Wildtiere anzusiedeln. So etwa Flächen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Wittstock oder der Döberitzer Heide, wo Wisente und Przewalskipferde angesiedelt wurden. Inge Sielmann ist Ehrenvorsitzende und bis heute im Stiftungsrat aktiv. Aktuell wird auf Gut Herbigshagen eine zusätzliche Ausstellung konzipiert, die 2019 zusammen mit einem komplett neu gestalteten gastronomischen Bereich eröffnet werden soll.  

Ein weiterer Schritt, das moderne Gut Herbigshagen in der Region mit ihren Bewohnern genauso zu verankern wie in der Geschichte vor Ort, in die vom Menschen geschaffene Kulturlandschaft genauso wie in die Umwelt. Als eine Stätte, die an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist und trotzdem nicht im Gegensatz steht zur Natur. Es ist dieser bedachtsame und ganzheitliche Ansatz, der das Gut zu mehr macht als „nur“ einem Lern- und Schulungsort. Es ist in all seiner Vielfalt ein Symbol und gleichzeitig eine treibende Kraft zum Erhalt einer reichen und gesunden Natur.

Autor:

Hans Irbel

Über die Heinz Sielmann Stiftung

Die Heinz Sielmann Stiftung wurde 1994 von Heinz und Inge Sielmann gegründet und hat sich seitdem dem Schutz der Natur verpflichtet. Dazu gehört auch der Kauf von Grundstücken. Als Sielmanns Naturlandschaften werden die Flächen langfristig für die Förderung und den Erhalt der biologischen Vielfalt gesichert. Sie fungieren auch als Erholungs- und Lernorte. Außerdem initiierte die Stiftung Biotopverbünde am Bodensee und entlang des Grünes Bandes. Die Stiftung finanziert sich in erster Linie durch Spenden.

www.sielmann-stiftung.de/gut-herbigshagen

www.sielmann-stiftung.de

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Dieser Text erschien zunächst als Editorial unserer Sonderpublikation “Stiftungen und Kulturerbe”, die Anfang Dezember der Zeitung “Die Welt” und dem Magazin “Arsprototo” der Kulturstiftung der Länder beilag.

Förderer der Sonderpublikation „Stiftungen und Kulturerbe“ sind das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz, die Kulturstiftung der Länder, die Volkswagen Stiftung und die Wüstenrot Stiftung.

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