Unsere Demokratie – es ist zwölf Uhr

Carola Schaaf-Derichs
Unsere Demokratie
© Treffpunkt Hilfsbereitschaft 2011
12.04.2019
Unsere Demokratie
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Carola Schaaf-Derichs von der Landesfreiwilligenagentur Berlin zeigt Klare Kante für unsere Demokratie und ermuntert uns, ebenfalls Position zu beziehen. 

Viel ist in der letzten Zeit die Rede vom Verlust der Demokratie, von ihrer Bedrohung durch Feinde, vom Ende einer guten Zeit – und das zurecht! Noch profitieren wir alle, die im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements und der Zivilgesellschaft aktiv sind, wie gewohnt von den Segnungen der Demokratie, von einem zivilen Umgang miteinander, von Zuwächsen an Bereitschaft zum Mittun, vom Wachstum des zivilgesellschaftlichen Sektors. Aus meiner Sicht ist dies momentan beruhigend und begrüßenswert, aber – und darum wird es in meinem Plädoyer gehen – insbesondere gerade jetzt auch schützens- und erhaltenswert. Ja, vielleicht liegt gerade in der aktiven und positionierten Zivilgesellschaft eine der wichtigsten Zukunftsperspektiven unserer Gesellschaft. Ist uns das so in aller Deutlichkeit klar? Und was sind dann unmissverständlich und alternativlos jetzt unsere Handlungsoptionen? 

Ich möchte im Folgenden einige Punkte diskutieren, die ich für „angezeigt“ halte, somit dazu ermuntern und aufrufen, hier selbst auf den Plan zu treten und Position zu beziehen. 

Demokratie für alle – aber für einige mehr, für andere weniger? Wie steht es um die „offene Gesellschaft“?

Als Landesfreiwilligenagentur Berlin haben wir in unseren zivilgesellschaftlichen Netzwerken beobachtet, dass die dort vertretenen Organisationen in der überwiegenden Mehrzahl von weißen, gut gebildeten und abgesicherten Menschen, in leitenden Funktionen oft Männern, repräsentiert sind. Es liegt bei Weitem nicht nur an unserem Standort in Berlins alter Mitte, wo sich das quirlige Miteinander von Menschen in aller Diversität derzeit gut entwickelt, dass wir von dieser „bunten Gesellschaft“ als Modell am meisten überzeugt sind. Wir haben uns der Interkulturellen Öffnung unserer Organisation, ihren Netzwerken sowie Veranstaltungen aus Überzeugung für dieses produktive und gleichwertige Miteinander von Menschen in ihrer Verschiedenheit bereits vor Jahren entschieden. Seither, so die aktuelle Studie „Mehr Zusammenarbeit wagen!“ der Bertelsmann-Stiftung, machen wir die Erfahrung, von dieser diversitäts-orientierten Kooperationen überaus bereichert zu werden. Mehr noch: Wir haben seither einen Zugang zu und Zulauf von überaus engagierten Organisationen von Migrantinnen und Migranten und Geflüchteten, die ebenso auf dem Weg sind, sich zu öffnen. Mit diesen Kontakten wurden uns die Augen geöffnet für die Nicht-Weiße oder die Nicht-Bio-Deutsche Realität dieser migrantischen Akteure. Wir erkannten sehr deutlich, wie sehr sie um ihre Rechte und Ansprüche auf gehört- und gesehen werden kämpfen müssen, wie sehr sich der Alltagsrassismus und die Perspektive der Bessergestellten am Ende oft durchsetzt und sie wieder einmal ohne Ergebnis aus Konferenzen oder Verhandlungen herauskommen. Hier ist ein deutlicher „Gap of democracy“ – ein großer, spürbarer Unterschied in der Frage der Teilhabe, Partizipation und Mitgestaltung von Gesellschaft. 

Meine These lautet, dass wir künftig solange nicht mehr von „unserer Demokratie“ als einer im steten Wandel befindlichen Gesellschaftsform profitieren, bis wir das ganze gesellschaftliche Spektrum, also die Neu- und Alt-Deutschen, in unsere Debatten und Strukturen mitnehmen und uns mit ihnen austauschen, bei Interesse sogar gemeinsam aktiv werden. Unsere Gesellschaft ist, solange sie in diese Teile zerfällt, überaus angreifbar. Es wird kein „Wir“ geben können, dass wirklich alle erfasst. Sondern nur ein „ihr dort“ und „wir hier“. Marina und Heribert Münkler haben in dem Band „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft“ die Chancen und Prädispositionen unserer Gesellschaft für diesen schleichenden Zerfall analysiert und kommen zum Schluss, dass wir uns als „Einwanderungsgesellschaft“ und somit inklusive Gesellschaft verstehen müssen, wenn wir nicht für reaktionäre, rückwärtsgewandte und letztlich diskriminierende Zuschreibungen anfällig sein wollen.

Was draufsteht, sollte auch drin sein: Demokratie durchgängig machen: drei Anregungen

Eine Studie des Stiftungs-Panels des Bundesverbands Deutscher Stiftungen in Kooperation mit der Körber-Stiftung zeigt, welche Zielgruppen für die Demokratieförderung und -vermittlung als relevant eingestuft wurden. Hier erwiesen sich die Kinder und Jugendlichen mit Abstand als die größte Gruppe, die Erwachsenen wurden als weniger wichtig für die Ansprache bewertet. Dies ist durchaus nicht unproblematisch, wenn in Betracht gezogen wird, wie es um die Nachhaltigkeit von Programmen zur politischen Bildung für Jugendliche aussieht. Denn sobald sie biografisch in andere Lebensphasen gehen und in einem ausgefüllten Erwachsenen-Alltag stehen, endet meist die Chance, dem eignen Wunsch nach gesellschaftlicher Beteiligung wirklich nachzugehen. Demokratieerhalt aber ist nur zu schaffen, wenn wir Menschen in allen Lebensabschnitten ansprechen und gewinnen können. Die aktuellen Jugendproteste an den FridaysForFuture ausgelöst von Greta Thunberg belegen eindrucksvoll, was an politischem Gestaltungswillen bei vielen jungen Menschen jenseits von Programmen da ist! Ein Einstehen für Demokratie, Menschenrechte und globaler Verantwortung gehört zu unserem Alltag, in allen Altersgruppen. Nicht weniger als das. 
 
Demokratieerhalt ist somit eine Querschnittsaufgabe auch innerhalb der Organisation, d.h. dass alle internen und externen Prozesse und insbesondere die Mitarbeitenden in der Stiftung partizipativ miteinbezogen und beteiligt werden sollten.  
 
Schließlich ist das Angebot von Demokratie-förderlichen Programmen und Aktivitäten für Zielgruppen in der Gesellschaft überaus begrüßenswert, dennoch wird die Nachhaltigkeit solcher befristeten Förderungen auch ergebniskritisch zu betrachten sein. Und die Frage nach der eigenen Mission, also dem Motiv und der Agenda, zu der Stiftungen für Themen unterwegs sind, wird gleichzeitig immer wichtiger für die Wirkung und Akzeptanz nach außen in die Gesellschaft hinein. Es wäre daher begrüßenswert, wenn sich die Ansprüche, die in den Ausschreibungen für Demokratie-Projekte üblich sind, in einem ausgewogenen Verhältnis zu den Anforderungen, die die Förderer an sich selbst in Sachen Demokratie-Freudigkeit stellen, hergestellt würde.

Stiftungen gestalten Zukunft: Welche Allianzen schmieden wir, um gemeinsam stark zu sein und resilient gegenüber Unterwanderungen?

Dies ist ein Appell dafür, sich nicht nur auf sich selbst als gut geerdete Stiftung und gemeinwohlorientierte Organisation zu verlassen, sondern auch den Mut für komplementäre Beziehungen zu ganz anderen Organisationen einzugehen. Mit dem Ziel, mehr Bereiche der Gesellschaft erreichen zu können und im Auftritt nach außen stärker und vielfältiger zu sein. Das sog. „bowling alone“, das schon Putnam in den 90er Jahren in den nördlichen Industriestaaten konstatieren musste, hat sich damals rasch auch auf Organisationen als Individuen ausgeweitet: Hauptsache, wir sind o.k. Aber diese Philosophie kommt heute in einen krassen Widerspruch zu den Anforderungen in unserer Realität. Nur wenn wir uns vernetzen, und sei es nur für eine kurze Aktionszeit, stehen wir gemeinsam für die erforderliche Vielfalt der Zivilgesellschaft, für ihren Einfluss und letztlich auch ihre Macht. Ob dies eine mediale Vernetzung oder eine politische ist, hängt von den Anlässen der Konfederation ab. Bundesweit haben sich Netzwerk-fördernde Veranstaltungen wie Stiftungstage und -wochen regional etabliert, die einen klaren win-win-Vorteil für alle Beteiligten bieten. Und es lässt sich nicht mehr abstreiten, dass dies die Zeit für eine „assoziative Demokratie“ ist, so die Forderung von Ansgar Klein und Thomas Olk in ihrem Beitrag „Transsektorale Vernetzung und assoziative Demokratie“ in dem Band Forschung zu Zivilgeselschaft, NPO’s und Engagement“.

Was ist unser Beitrag bzw. die Chance zu weiteren demokratieförderlichen Entwicklungen, die über die Deutsche Engagementstiftung befördert werden können?

Die Deutsche Engagementstiftung bietet u.a. die Schwerpunkte ländlicher Raum und Ostdeutschland an. Das ist auf jeden Fall eine Chance zum aktiven Demokratierehalt und auch zur Präventionsarbeit gegenüber Angriffen auf die lokalen Engagement- und Demokratie-Strukturen. Allerdings wird sich früher oder später die Frage stellen, inwiefern diese Ansätze auf Dauer mit ihren vorgegebenen lokalen Eingrenzungen eine positive Bilanz ziehen können. Schließlich stellt sich die Frage, wie es um die urbanen Zentren in Deutschland mit ihren wachsenden Stadtgesellschaften bestellt ist, wie es mit dem Westen der Republik aussieht, ob es hier nicht genauso Verlierer von Demokratie und Zusammenhalt gibt, und zwar seit längerer Zeit schon, und was dagegen gemacht werden kann? 
Aus unserem Nachbarland Österreich kenne ich die gute Praxis, dass auch wesentlich kleinere Fördersummen beantragt werden können, die genau diese unmittelbare lokale Kraft geben, um Menschen an einen Tisch oder in eine Konferenz zu bekommen, die dann wiederum stärkend und vernetzend wirken. Das wäre mein Wunsch an die Deutsche Engagementstiftung: Mut zur kleinteiligen Förderung, Interesse an lokalen Debatten, Förderung von regionalem Austausch und von nachhaltiger Regionen- bzw. Ländervernetzung und einen bundesweiten Auftrag.

Zur Person

Carola Schaaf-Derichs ist Diplom-Sozialpsychologin, Organisationsentwicklerin und Managementausbilderin sowie Geschäftsführerin der Landesfreiwilligenagentur Berlin e.V.

In der Landesfreiwilligenagentur Berlin: 
Initiatorin und Projektentwicklerin bundesweit etablierter Kampagnen (Freiwilligentage, Aktionswoche zum bürgerschaftlichen Engagement, Berliner Stiftungstag) Ausbilderin für Freiwilligenmanagement / Ehrenamtskoordination, zum Kompetenzprofil für Freiwilligenagenturen, zum Diversity-Learning in Organisationen 
 
In ehrenamtlichen Funktionen: 
Sprecherrätin im Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin  
Sprecherrätin im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement 
Mitglied im Nationalen Beirat von Start Social (McKinsey&Company)

Selbständig tätig:  
Freiberufliche Unternehmens- und Organisationsberaterin 

Auszeichnung: 
Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland (2008) 

Über die Landesfreiwilligenagentur

Die Landesfreiwilligenagentur Berlin ist das Kompetenzzentrum für bürgerschaftliches Engagement in Berlin. Seit 1988 fördert sie Strukturen, Themen und die Kultur einer lebendigen und engagierten Stadtgesellschaft in Berlin. Im Vordergrund steht immer das persönliche Engagement. 

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