„Nicht über uns, mit uns!“ 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland

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22.02.2019
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Am 24. Februar 2009 unterzeichnete Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Johannes Ruland, Vorstandsvorsitzender der Gold-Kraemer-Stiftung, wirft einen Blick auf seitdem Erreichtes und das, was nun zu tun ist.

Johannes Ruland, Vorstandsvorsitzender der Gold-Kraemer-Stiftung ©Gold-Kraemer-Stiftung
Johannes Ruland, Vorstandsvorsitzender der Gold-Kraemer-Stiftung
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Seit fast 50 Jahren engagiert sich die Gold-Kraemer-Stiftung für eine bessere gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung. Als vor genau 10 Jahren der Deutsche Bundestag die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und damit zu deutschem Recht erhoben hat, waren uns die Ziele von „Inklusion“ deshalb nicht neu. Den Begriff kannten wir allerdings eher aus einem anderen Zusammenhang, denn unsere Stiftungsgründer, die Eheleute Paul und Katharina Kraemer, waren die Begründer der Juweliergruppe Gold Kraemer. Und in der Juwelierbranche meint Inklusion bei Diamanten und Edelsteinen den Einschluss von Fremdkörpern – also etwas, das einen Stein weniger rein, weniger wertvoll macht.  

Der Blick von der Norm aus 

Über diesen Zusammenhang habe ich in den letzten Jahren immer wieder nachgedacht. Es ist ein gutes Sinnbild dafür, wie wir trotz vieler Erfolge in unserem Bemühen, Menschen mit Beeinträchtigung nicht auszugrenzen, sondern ihnen eine selbstverständliche und gleichwertige Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen, immer noch in alten Denkmustern verharren. Denn wir sehen noch viel zu oft auf die Defizite, auf das, was Menschen mit Behinderung nicht können. Natürlich ist es wichtig und erforderlich, dass es für sie Hilfsmittel, Rampen, Unterstützung und Assistenz gibt. Aber wir denken bei der Entwicklung dieser Maßnahmen immer noch zu sehr von der Norm aus. 

Inklusion als Perspektivenwechsel 

Genau an diesem Punkt muss Inklusion ansetzen. Inklusion heißt nicht, die eine oder andere Maßnahme umzusetzen, um Menschen mit Beeinträchtigung „normaler“ zu machen. Es braucht einen Perspektivwechsel. Inklusion heißt für mich erstens, darauf zu schauen, welche Fähigkeiten, Wünsche und Möglichkeiten Menschen mit Beeinträchtigung haben und zweitens, wie sie sich damit selbstbestimmt einbringen wollen. „Nicht über uns, mit uns!“, lautet ihre berechtigte Forderung. 

Gemischte Bilanz für Deutschland 

Insofern fällt die Bilanz nach 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland gemischt aus. Es ist gut, dass Menschen mit Beeinträchtigung mehr und bessere Chancen erhalten. Wir haben in Deutschland eines der besten Wohlfahrtssysteme weltweit und zahlreiche Förderinstrumente selbst für schwerstmehrfach behinderte Menschen. Aber gut gemeint ist nicht immer gut gemacht – viel zu oft gehen die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen mit Behinderung unter zwischen Paragraphen, Vorschriften und Lehrmeinungen.  

Inklusion heißt Partizipation 

Erfolgreiche Inklusion setzt eine konsequente Abkehr der klassischen Fürsorgepolitik voraus. Menschen mit Beeinträchtigung haben ein Menschenrecht als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger anerkannt zu werden, und das nicht nur in öffentlichen Einrichtungen, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen: im Restaurant, im Kino, im Sportverein, beim Einkaufen oder im Urlaub. Und als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger müssen sie diese Lebensbereiche auch selbst mitgestalten können. Ich bin überzeugt davon, dass wir – übrigens nicht nur im Hinblick auf Menschen mit Beeinträchtigung – sehr viel mehr Wert auf Partizipation legen müssen.  

Stiftungen als Impulsgeber 

Stiftungen können in diesem Prozess viele Impulse geben. Sie sind freier als Behörden, können sich auf Experimente einlassen und als Mittler zwischen Politik und Zivilgesellschaft agieren. In beide Richtungen ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, aber: Es lohnt sich. Denn letztlich betrifft Inklusion nicht nur Menschen mit Beeinträchtigung, sondern alle Menschen. Für mich ist sie ein neues Wertesystem, das Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt respektiert und jeden mit seinen individuellen Bedürfnissen, Stärken und Kompetenzen wertschätzt und unterstützt.  

Neue Wege und Lösungen Dank Inklusion 

Die Gold-Kraemer-Stiftung hat sich diesem Wertesystem verschrieben. Und sie erlebt die Veränderungsprozesse selbst. 1982 war ihre erste stationäre Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung ganz selbstverständlich geprägt vom Versorgungsgedanken. In den letzten Jahren aber gilt es alle Angebote und Aktivitäten unserer Stiftung an der Inklusion auszurichten – das ist spannend und sehr herausfordernd. Denn es gibt hier kein Patentrezept. Nur wer sich traut, neue Wege zu beschreiten, wird nachhaltige Veränderung erreichen. Diese neuen Wege geht die Gold-Kraemer-Stiftung in ihren Handlungsfeldern Leben & Wohnen, Arbeit & Ehrenamt, Bildung & Forschung, Sport & Bewegung sowie, Kunst & Kultur. Unser Ziel ist es hier, in einem sich stetig weiterentwickelnden Netzwerk neue Lösungen ohne eigene Barrieren im Kopf zu denken und umzusetzen. In dieses Netzwerk gehören von Beginn an – im partizipativen Sinne – Menschen mit Behinderung als Expertinnen und Experten in eigener Sache. Nur so können wir unsere Gesellschaft für den bereits begonnenen Paradigmenwechsel wirklich tiefgreifend verändern. Hier ist die Stiftungslandschaft einmal mehr gefordert, denn sie ist im Stande, ein leistungsfähiges Netzwerk zu formen, aus dem heraus starke und innovative Impulse für die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft kommen. Einer Gesellschaft, in der Begegnung auf Augenhöhe passiert und jeder Mensch die gleichen Chancen und Möglichkeiten hat. 

Wer das beherzigt und lebt, wer seine Perspektiven erweitert, Grenzen verschiebt und neue Zugänge zu Informationen, Angeboten und Leistungen schafft, wird deshalb in einer immer stärker multipolaren und hochgradig differenzierten Welt seine Relevanz, Attraktivität und Zukunftsfähigkeit langfristig steigern.

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