„Wir sind nicht nur für Frauen da“

Geschlechtergerechtigkeit
© Illustration: Jakob Hinrichs
11.11.2019
Geschlechtergerechtigkeit
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Seit Herbst 2018 bietet der Bundesverband in Kooperation mit der Charité Berlin Beschäftigten seiner Mitgliedsstiftungen eine Anlaufstelle bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Ein Gespräch mit Dr. Christine Kurmeyer, Gleichstellungsbeauftragte der Charité, über Grenzverletzungen.

Frau Dr. ­Kurmeyer, seit einem Jahr können Mitarbeitende in Stiftungen bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz das Beratungsangebot der Charité Berlin in Anspruch nehmen. Unabhängig vom Stiftungssektor: Melden sich bei Ihnen fast ausschließlich Frauen oder nehmen auch Männer oder Menschen mit anderer sexueller Identität Ihr Beratungsangebot wahr?
Dr. Christine Kurmeyer: 
Wir haben ein ganz breites Spektrum an Menschen, die sich hier Beratung holen. Manchmal verweisen wir sie weiter, etwa an Psychologen oder Coaches. Grundsätzlich aber sind wir offen für alle, und das wird auch so wahrgenommen. Deswegen ist uns der Titel „Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte“ so wichtig, weil wir eben nicht nur Frauen ansprechen wollen, sondern alle, die sich in irgendeiner Form am Arbeitsplatz belästigt fühlen.

Was für Fälle tauchen in Ihrer Beratung immer wieder auf?
Oft melden sich bei uns Beschäftigte, die wissen wollen, ob es sich bei dem, was ihnen widerfahren ist, wirklich um sexuelle Belästigung handelt. Da gibt es ganz viele Unsicherheiten. Deshalb haben wir die Broschüre „Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen, Abgrenzungen“ zusammengestellt, in der wir das ganze Spektrum sexueller Belästigung aufzeigen. Viele verbinden den Begriff immer noch mit dem Bild des klassischen „Busengrapschers“. Doch das ist mitnichten so.

Sondern?
Sexistische Witze oder obs­zöne Bilder am Arbeitsplatz sind ebenfalls sexuelle Belästigung, auch wenn sie von den Betroffenen oft gar nicht als solche identifiziert werden. Auch deshalb nicht, weil diejenigen, die sich übergriffig verhalten, meist gar kein Unrechtsbewusstsein haben.

Was raten Sie Betroffenen in solchen Fällen?
Lassen Sie es mich an einem Beispiel deutlich machen: Vor einiger Zeit kam eine junge Wissenschaftlerin zu uns und sagte: „Ich weiß jetzt nicht genau, was da passiert ist, aber mein Kollege hat mir kürzlich eine Tasse Tee an den Schreibtisch gebracht und zu mir gesagt: ‚Du und ich jetzt nackt am Strand, das wär doch was.‘“ Der habe ich zunächst einmal bestätigt: Ja, das ist sexuelle Belästigung. Das ist eine Grenzverletzung, die nicht zulässig ist.

Wie ging es dann weiter?
Grundsätzlich überlegen wir immer gemeinsam mit den Betroffenen, wie wir dagegen vorgehen. Wir bieten an, dass wir aktiv werden und zum Beispiel mit dem oder der Vorgesetzten das Gespräch suchen. Aber letztlich entscheiden die Betroffenen immer selbst, ob wir tätig werden sollen, was gemacht werden soll und in welcher Eskalationsstufe es passieren soll. Das ist ganz wichtig.

Warum?
Weil wir ihnen damit die Selbstbestimmung wiedergeben, die durch die sexuelle Belästigung angegriffen wurde. Man ist erst mal so perplex, man fühlt sich so hilflos, weiß gar nicht, was man sagen soll.

Das heißt, Sie vertrauen grundsätzlich darauf, dass die Person, die zu Ihnen kommt, die Wahrheit sagt?
Ja. Aber derjenige, der beschuldigt wird, hat immer die Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu positionieren und zu sagen: „Nein, das war ganz anders.“ Oder: „Ja, das war genau so, aber die soll sich nicht so anstellen.“ Da gibt es eine ganz breite Palette an möglichen Reaktionen. In dem Fall, den ich eben geschildert habe, habe ich mit dem Vorgesetzten telefoniert, der den Kollegen zunächst zur Rede gestellt und ihn dann in ein anderes Büro gesetzt hat.

Reicht das denn als Sanktionsmaßnahme aus?
Zumindest ist die unmittelbare Gefahrenquelle ausgeschaltet. Zudem weiß der Beschäftigte nun, dass der Vorgesetzte ihn im Blick hat und er im Wiederholungsfall mit einer Verwarnung, einer Abmahnung und gegebenenfalls sogar mit einer Kündigung rechnen muss.

Würden Sie sagen, dass sich die Wahrnehmung des Themas sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geändert hat, etwa durch die MeToo-Debatte?
Bei unseren Führungskräften erlebe ich schon eine deutlich größere Sensibilität dem Thema gegenüber. Vor allem männliche Vorgesetzte stehen unserer Arbeit heute sehr viel aufgeschlossener gegenüber als früher. Da hat tatsächlich schon ein kultureller Wandel stattgefunden.

Sie haben langjährige Erfahrung als Gleichstellungsbeauftragte. Wie haben sich die Themen, mit denen Sie zu tun haben, in dieser Zeit verändert?
Die Themen werden eher mehr als weniger. Mittlerweile haben wir ein Projekt für geflüchtete Frauen – da tut sich ein ganz anderes Spektrum auf. Außerdem machen wir heute sehr viel mehr als früher aktive Förderarbeit, etwa Karriereförderung auf struktureller Ebene. Das Schöne ist: Wir werden nicht mehr als „diese Krawall-Elsen“ wahrgenommen, die immer sagen, da muss noch ein „innen“ hinten dran, sondern als Expertinnen-Team, das die Hochschulleitung in Fragen der Gleichstellungs­arbeit berät.

Eigentlich müsste es das Ziel jeder Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sein, ihr Amt überflüssig zu machen, richtig?
(lacht) Das stimmt. Ich habe lange geglaubt, dass sich meine Arbeit spätestens dann, wenn ich in Rente gehe, erübrigt hat. Aber mittlerweile denke ich das nicht mehr.

Ihre Ansprechpartnerin:

Dr. Christine Kurmeyer 
Zentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Charité Berlin
Telefon +49 (0)30 450 577 252

E-Mail-Kontakt unter https://frauenbeauftragte.charite.de
 

Anlaufstelle bei sexueller Belästigung

Im Rahmen der Kooperation mit der Charité Berlin stellt der Bundesverband Deutscher Stiftungen ein Angebot für seine Mitglieder bereit. Betroffene erhalten hier kostenfreie und schnelle Beratung und Hilfestellung.

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