Feminismus ist Freiheit – auch für Männer

 Feminismus ist Freiheit
Geschlechtergerechtigkeit
© Grafik: Jakob Hinrichs
05.03.2020
Geschlechtergerechtigkeit
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Es ist befreiend, sich als Mann der Debatte über die männliche Verfasstheit zu stellen. Sie öffnet den Zugang zu Feminismus als Weg für Systemwandel – auch für die Stiftungswelt.

Vor zwanzig Jahren hat mich meine Partnerin, die damals begeistert das Gesamtwerk von Simone de Beauvoir verschlang, in den Feminismus eingeführt. Es war eine Offenbarung: Mir wurde klar, dass Menschen nicht als Frauen oder Männer geboren werden, sondern dass Genderrollen, -verhaltensweisen und –erwartungen von der Gesellschaft geprägt und auf uns projiziert werden. „Traditionelle Männlichkeit verstümmelt ebenso wie die Zuweisung zur Weiblichkeit“, sagt Virginie Despentes in King Kong Theorie. 

Männer müssen keine Fußballfans sein

Was für eine Befreiung! Als heterosexueller junger Mann musste ich kein Fußballfan sein, ich konnte mit schwulen Freunden abhängen und das erforschen, was in mir weiblich und schwul, hetero und queer war. Es war die Erkenntnis, dass essentialistische Projektionen der Vielzahl von individuellen Identitäten und Erfahrungen nicht gerecht werden. Und dass binäres Denken – Mann/Frau, gut/schlecht, schwarz/weiß, Yin/Yang, Natur/Kultur, Körper/Seele, richtig/falsch – die Quelle vielerlei Leids ist: Zweiteilungen stabilisieren Hierarchien und Machtbeziehungen, sie verwischen die Nuancen, die Komplexität und die wechselseitigen, komplexen Verbindungen des Lebens. 

Jedoch fand ich mich nicht in allen der vielfältigen und manchmal widersprüchlichen feministischen Strömungen wieder. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau bezeichnet sich als Feministen, aber er schreckt nicht davor zurück, die Öl- und Gasindustrie zu unterstützen und dadurch sein Land aufzureißen, zu verbrennen und zu vergiften. Und Hillary Clintons „Lasst uns die gläserne Decke durchbrechen!“ ist nur eine Spielart eines Karrierismus, der auf patriarchalischen Werten von Leistung, Konkurrenz und „Macht über“ basiert. Die vielen systemischen Krisen in der heutigen Welt müssen mit einem weiteren Blickwinkel angegangen werden. 

Feminismus bietet diesen Blickwinkel an. Jenseits des unerlässlichen Kampfes für gleiche Rechte und Chancen ist Feminismus ein analytischer Rahmen, der es uns ermöglicht, das dominante System der Monetarisierung und Ausbeutung von Menschen und dem Planeten auf der Basis des Rechts des Stärkeren zu verstehen und deutlich zu machen. 

Feminismus als systemische Alternative

Frauen und Mädchen sind die ersten und zahlreichsten Opfer dieses Systems, aber sie sind nicht die einzigen – das Patriarchat ist untrennbar mit normativen Diskriminierungen, Rassismus und Anthropozentrismus verbunden. Das macht Feminismus zu einer systemischen Alternative zur engen Verflechtung von Kapitalismus, Extraktivismus und Patriarchat, der von intersektionalen Feministinnen wie beispielsweise Naomi Klein in ihrem brillanten Buch "Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima" (2014) angeprangert wird. Tatsächlich bietet solch ein intersektionaler, systemverändernder Feminismus eine machtvolle Perspektive für sozialen Wandel - und damit auch für die Philanthropie. 

Wie kann also ein „männlicher Feminismus“ im Kontext eines systemischen Konzepts von Feminismus aussehen? Zu allererst ist Komplizenschaft erforderlich. Männer sollten umsichtig sein hinsichtlich des Raumes, den sie beanspruchen, und sie sollten gewillt sein, einen Schritt zurückzutreten, wenn ihre Stimme nur auf Kosten der Frauen gehört werden kann. Teilzeitarbeit und die Übernahme von Verantwortung in der Fürsorge erlauben Männern ihre Männlichkeit jenseits maskuliner Stereotypen und Erwartungen zu erweitern. Es ist nicht immer einfach – ich arbeite 80 Prozent, und das Büro um 16:30 Uhr zu verlassen ist eine permanente Herausforderung. Aber was soll’s, Frauen müssen viel mehr Dinge unter einen Hut bringen! Und vor allem ist es wirklich bereichernd, Zeit mit deinem Kind zu verbringen. 

Feministinnen haben die Zuschreibungen der Weiblichkeit über Jahrhunderte dekonstruiert. Männer sollten es wagen, zur Debatte über die Zuschreibungen der Männlichkeit beizutragen, insbesondere über die Teile ihrer Männlichkeit, die durch das Patriarchat verletzt, verformt und beschädigt wurden. 

Doch auch jenseits von Männern, die Raum und Macht abgeben, trägt Feminismus zur kollektiven Befreiung und zum Systemwandel bei. Er kann unsere Suche nach grundlegend neuen Praktiken für unsere Gesellschaften und unsere Organisationen leiten. 

Was kann eine feministische Philanthropie aussehen?

Von daher ist feministische Philanthropie viel mehr, als Frauen und Mädchen Geld zu spenden. Sie ist nicht beschränkt auf "Förderung unter Gendergesichtspunkten". Vielmehr geht es darum, die 'maskulinistische' Logik der Konkurrenz, des Wachstums, des Profits, der Ausbeutung, des Impacts, der Ziele (man beachte die militaristische Wurzeln dieser Termini) grundsätzlich zu hinterfragen und einen grundlegend anderen Blick auf die Welt und alle Aspekte der organisatorischen Praxis zu ermöglichen, zugunsten einer Logik der Kooperation, der Regeneration, des Heilens, der Fürsorge, der Empathie und der tiefen Verbindung mit dem Leben, mit Menschen und Nicht-Menschen gleichermaßen. 

Feministische Philanthropie ist eine Philanthropie des Vertrauens, bei der es darum geht horizontale Strukturen und Organisationen aufzubauen, die auf nüchternen und soliden Werten der Liebe für die Menschen und den Planeten beruhen. Sie ist die Verkörperung einer systemischen Alternative durch die Praxis spielerischen Experimentierens, zweckmäßig und für jeden Tag. Philanthropie braucht ebenso sehr wie die Gesellschaft als Ganzes die Befreiung durch eine wahrhaft feministische Transformation. 

 


Übersetzung des Artikels „Why feminism is liberating for men“, erschienen im Dezember 2019 in Alliance Magazine

Contribution by our partner Alliance Magazine

We hope you enjoy reading these articles from our latest Feminist Philanthropy issue! We would love for you to read the rest of this special feature, with articles including “Shifting the power in a feminist funding ecosystem” by Kellea Miller (AWID) and “The future of foundations is female” by Anke Pätsch (BDS) and Katja Wagner (PHINEO).

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Autor

Tobias Troll
EDGE Funders Alliance

EDGE (Engaged Donors for Global Equity = Engagierte Stifter/innen für Globale Gleichheit) betreibt eine Gendergerechtigkeitsinitiative und bietet regelmäßige Trainings zu Feminismus für Stifter/innen an.

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