Demokratisches Europa – nötiger denn je, aber keine Selbstverständlichkeit

Man putting a ballot with European Union flag into a voting box.
Unsere Demokratie
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10.05.2019
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Wie stehen die Bürgerinnen und Bürger Europas zur EU? Und welches Ergebnis ist von den Europawahlen vom 23. bis 26. Mai 2019 zu erwarten? Diese Fragen beantwortet uns Richard Hilmer, Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts policy matters. Für die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Hans-Böckler-Stiftung führt er regelmäßig Studien über die Situation der Demokratie und des Rechtspopulismus in Deutschland und Europa durch.

Die neunte Wahl zum Europäischen Parlament findet in schwierigen Zeiten statt. Hinter der Europäischen Gemeinschaft liegt ein „grausames Jahrzehnt“ (Emmanuel Macron), geprägt von der Finanz-, der Wirtschafts-, der Euro- und zuletzt der Flüchtlingskrise. Vor ihr liegen nicht minder bedeutsame neue Herausforderungen: der nach wie vor ungelöste Brexit, Konflikte an den östlichen Grenzen und in der arabischen Welt, drohende Konflikte mit wichtigen Nachbarstaaten wie Russland und der Türkei sowie erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit dem wichtigsten Bündnis- und Handelspartner, den USA.  

Deutsche messen EU wieder mehr Bedeutung zu 

Anbetracht dieser Herausforderungen ist den Deutschen die Bedeutung der Europäischen Union noch einmal bewusster geworden. Noch im Herbst 2015, zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise, plagten die Bundesbürger erhebliche Zweifel am Nutzen der EU-Mitgliedschaft Deutschlands1. Diese Zweifel sind nicht zuletzt wegen des bevorstehenden Ausscheidens der Briten der Überzeugung gewichen, dass die Gemeinschaft gerade für Deutschland Vorteile, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, bringt2. Heute verbinden die Deutschen mit der EU wieder wachsenden Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten.  

Vor allem  steht die EU aber für Frieden, Freiheit und Demokratie. In deren Bewahrung sehen die Bürger die wichtigste Aufgabe der EU und sind mit deren Erfüllung insgesamt weitgehend zufriedenen. Hoch ist aber auch das Bedürfnis nach Schutz vor Terror und vor grenzüberschreitender Kriminalität. Hier erwartet eine Mehrheit der Deutschen größere Anstrengungen seitens der Gemeinschaft.  

Groß ist auch die Hoffnung der Bürger, dass die EU dazu beiträgt, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen, etwa durch gleiche Bezahlung von Frauen und Männern oder durch eine gerechte Besteuerung internationaler Unternehmen.3 Insbesondere in den unteren sozialen Schichten werden in beiden Bereichen deutliche Defizite beklagt, weshalb die die EU in diesen Bevölkerungsgruppen häufig als wirtschaftsfreundliches Eliteprojekt erfahren wird.  

Kritik an EU bei gleichzeitigem Wunsch nach mehr europäischer Integration  

Diese Kritik führt jedoch keineswegs zu einer Infragestellung der EU oder gar zu Austrittsgelüsten. Im Gegenteil: Eine überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland (83 Prozent) spricht sich für eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedsländer sowie dafür aus, der EU mehr Kompetenzen zu übertragen4. Vor allem in der Außen- und Verteidigungspolitik, dem Umweltschutz und der Besteuerung internationaler Unternehmen, versprechen sich die Deutschen bessere Resultate durch eine Kompetenzverlagerung in Richtung Brüssel.  

Hohe Erwartungen an die EU bei geringem Vertrauen in Institutionen 

Alles in Butter also? Keineswegs, denn die steigenden Erwartungen an die EU gehen einher mit einem geringen Vertrauen der Bürger in entscheidende Akteure der EU. In die europäische Kommission und das Europäische Parlament hat nur ein Drittel der Deutschen Vertrauen (32 bzw. 34 Prozent), einzig der Europäische Gerichtshof überzeugt eine Mehrheit der Bürger (54 %).  

Auch den nationalen Parteien traut man in Sachen Europapolitik derzeit nur wenig zu. Wenn es etwa um die Stärkung des Zusammenhalts in Europa geht, können 42 Prozent der Wahlberechtigten keine Partei ihres Vertrauens benennen. Wenn es um die Vertretung deutscher Interessen in der EU geht, müssen sogar 47 Prozent passen5. Zu spüren bekommen dieses gestiegene Misstrauen vor allem Union und SPD, die bisher mehr als andere Parteien für Kontinuität, auch in der Europapolitik, stehen. Ihnen drohen bei der anstehenden Europawahl herbe Verluste. Von der Schwäche der Regierungsparteien dürften neben den Grünen ausgerechnet auch die europakritische AfD profitieren, die sicher nicht für die von den Wählern herbeigesehnte Stärkung der EU steht.  

Mehr nationale Eigenständigkeit in Osteuropa 

Mit dieser Entwicklung steht Deutschland nicht alleine. In allen 28 Mitgliedsstaaten (einschließlich Großbritannien) hält eine Mehrheit der Bürger die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für „eine gute Sache“6. Gleichwohl zeichnet sich in bestimmten Bereichen eine gewisse Unzufriedenheit mit der Europäischen Union ab. In den osteuropäischen Staaten betrifft dies insbesondere die Migrationspolitik, der die dortige Bevölkerung höchste Priorität beimisst. Hier beharren die Visegrad-Staaten auf nationale Zuständigkeiten und wehren sich gegen eine Verteilung anerkannter Flüchtlinge nach einem für alle EU-Staaten geltenden Verteilungsschlüssel. Diese restriktive Haltung trifft auf große Zustimmung in der jeweiligen Bevölkerung7. Die hohen Zustimmungswerte von Kaczynskis PiS-Partei und Orbans Fidesz basieren nicht zuletzt darauf, dass sie stärker als ihre Mitbewerber in diesem Bereich auf nationale Eigenständigkeit pochen. 

Rechtspopulisten auf dem Vormarsch 

Ambivalent ist die Haltung zur EU derzeit aber auch in Italien und zunehmend auch in Frankreich, den neben Deutschland wirtschaftlich wie politisch wichtigsten EU-Ländern. In weiten Teilen der traditionell europafreundlichen Bevölkerung beider Staaten herrscht seit geraumer Zeit Unsicherheit darüber, ob die EU-Mitgliedschaft ihrem Land eher zum Vorteil oder zum Nachteil gereicht. Als Positiva gelten nach wie vor die friedens- und freiheitsstiftende Kraft der Union.  

Angesichts der in beiden Ländern angespannten wirtschaftlichen Situation bestehen aber ernsthafte Zweifel am wirtschaftlichen Nutzen der EU-Mitgliedschaft. Vor allem in Italien teilen viele Bürger den Eindruck, dass vor allem Deutschland von der Wirtschaftsgemeinschaft und vom Euro profitiert8. Hinzu kommt das in Italien weit verbreitete Gefühl, mit der Bewältigung des Zustroms an Flüchtlingen von den Partnerländern weitgehend alleine gelassen zu werden. Dieses Gefühl wird von Salvinis rechtspopulistischer Lega nach Kräften befeuert - mit nachhaltigem Erfolg: die Lega ist in der Regierung vom kleinen Koalitionspartner zur stärksten politischen Kraft in Italien avanciert – ein Erfolg, der in Frankreich Le Pens Rassemblement National bereits bei der letzten Europawahl gelang.  

Auch in vielen anderen Ländern befinden sich rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien im Aufwind. Eine der wenigen Ausnahmen war bislang Spanien, das lange Zeit resistent gegen Rechtspopulismus schien. Aber auch hier hat sich die erst 2013 gegründete rechte Vox-Partei als ernstzunehmender politischer Wettbewerber etabliert und schaffte bei der Parlamentswahl Ende April mit einem zweistelligen Ergebnis erstmals den Einzug ins Parlament. Da auch in vielen anderen Mitgliedsländern – darunter auch Deutschland - die Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien seit der letzten Europawahl spürbar gestiegen ist, kann sich das rechte Lager im Straßburger Parlament einen deutlichen Zuwachs erhoffen. 

Paradoxe Ausgangslage für Europawahlen 

Ergebnis dieser Entwicklung könnte ein Paradoxon sein: Nie zuvor waren die Herausforderungen für die Europäische Union größer, nie zuvor war sie als Institution wichtiger als heute. Und nie zuvor waren sich die EU-Bürger der Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft für Frieden, Freiheit und Wohlstand bewusster. Gleichzeitig war aber auch die Gefahr nie größer, dass die Bürger Parteien stärken, die die Union schwächen, weil sie den Handlungsspielraum der Europäischen Institutionen einengen.  
 

1 „EU vor Bewährungsprobe – was erwarten, worum sorgen sich die Bürger?“ Eine repräsentative 8-Länderstudie von policy matters im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung im Herbst 2015
2 „Was hält Europa zusammen? Die EU nach dem Brexit“ Eine repräsentative 8-Länderstudie von policy matters im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung im Sommer 2017
3 „Europa vor der EU-Wahl – in Sorge vereint“, policy matters im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Februar 2019
4 ebenda
5 ebenda
6 Eurobarometer „Closer to the Citizens“, Frühjahr 2019
7 Vgl. hierzu die beiden oben erwähnten 8-Länderstudien der Friedrich-Ebert-Stiftung
8 „Fremde Freunde“ Repräsentative Meinungsumfragen in Italien und in Deutschland zum deutsch-italienischen Verhältnis von policy matters im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Herbst 2017

Über den Autor:

Richard Hilmer ist Politik- und Meinungsforscher. 1982 ging er zu Infratest und war dort bis 1989 Leiter der DDR-Forschung. Nach dem Mauerfall führte er Infratest mit dem dimap-Institut zusammen und entwickelte das neue Infratest dimap u.a. durch die ARD-Wahlberichterstattung zum deutschen Marktführer. 2013 wurde er vom Bundesverband der Marktforscher als „Forscherpersönlichkeit des Jahres“ ausgezeichnet.  

Über policy matters:

2015 gründete Richard Hilmer „policy matters“. Die Gesellschaft für Politikforschung und –beratung ist durch zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Analysen der Bundestagswahlen von 2002 bis 2013, bekannt. Zu den Kunden der Gesellschaft zählen neben Parteien, Medien und Ministerien auch die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung und das Institut für Parlamentarismusforschung. 

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