(Wieder-)ENTDECKT : „Wo ist Ruth?“ von Erika Michel-Wagner, illustriert von Helena Scigala, ein Kinderbuch aus dem Jahr 1961 über den Holocaust

© (c) Nachlass Helena Scigala

Anlässlich des Internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust steht vom 21. Januar bis 28. Februar 2025 im Mittelpunkt einer kleinen Ausstellung in der Neubrandenburger Regionalbibliothek ein kleines Buch aus den Bibliotheks-Sammlungen, ein Jugendbuch aus dem Jahr 1961:  „Wo ist Ruth?“ von Erika Michel-Wagner (Verlag der Nation). Die Ausstellung wird unterstützt durch Leihgaben von Karbe-Wagner-Archiv (Neustrelitz) und Nachlass Helena Scigala (Berlin) sowie von der Annalise-Wagner-Stiftung

Autorin von „Wo ist Ruth?“ war die 29jährige Buchhändlerin Erika Michel-Wagner (1932-1979), die damals bei Annalise Wagner (1903-1986, Stifterin Annalise-Wagner-Stiftung) in Neustrelitz lebte. Sie erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 1939, welche im gerade an das Hitlerreich angeschlossenen Böhmen handelt. Das 13jährige jüdische Mädchen Ruth erlebt in ihrem Alltag und in der Schule antisemitischen Rassismus, Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung. Und doch: Es gibt mutige Kinder und Erwachsene, die zu ihr halten, ihr helfen und ihr vielleicht das Leben retten.

In einer Rezension hieß es: „Die bildkräftige, originelle Sprache verrät ein Talent, das größte Aufmerksamkeit verdient.“ Literaturhistoriker Rüdiger Steinlein macht in „Shoah in der deutschsprachigen Literatur“ (2006) darauf aufmerksam: „Während in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur um 1960 eine erste Welle von Erzählungen zum Thema Judenverfolgung / Holocaust einsetzt ... ist in der DDR in dieser Zeit nur ein – literarisch allerdings ungewöhnlich ambitionierter ... Text zu verzeichnen, der das Thema durchgängig darstellt: Erika Michel-Wagners 1961 im Verlag der Nation erschienene Erzählung ‚Wo ist Ruth?‘. ... Auch wenn Michel-Wagners Erzählung – wie ihre westdeutschen Seiten- oder Gegenstücke – das Freundschafts- und Rettungsmotiv bemüht, ist sie ihnen doch an Realismus bei der Darstellung der unterschiedlichen Mentalitäten und Reaktionsweisen und damit an literarischer Gestaltungskraft deutlich überlegen ...“. [1]

Illustriert wurde das Jugendbuch mit ausdrucksstarken Holzschnitten von der Künstlerin Helena Scigala (1921-1998). Sie war selbst Holocaust-Überlebende und gehörte zu den namhaften Künstlerinnen der DDR. „Helena Scigala ... Schülerin von Arno Mohr, ist vor allem mit sensiblen Holzschnitten hervorgetreten, deren beste auf die Tradition des späten, im Ausdruck besänftigten Expressionismus verweisen.“ (Lothar Lang, 1976) [2] Insbesondere Frauen und Mütter sind ihr lebenslanges Thema, darunter u. a. Porträts von Anne Frank (u.a. Illustration der ersten DDR-Ausgabe des Tagebuchs von Anne Frank) oder der aufrüttelnde Zyklus „Ravensbrück“ über das Leiden von Frauen und Kindern im Konzentrationslager. Helena Scigalas zeitlose, intensive Kunst berührt tief und wird gerade wieder neu entdeckt.

Das Manuskript von „Wo ist Ruth?“ wird im Karbe-Wagner-Archiv Neustrelitz bewahrt. Erika Michel-Wagner und die Neustrelitzer Heimatforscherin, Autorin und Stifterin Annalise Wagner (1903-1986) verband sowohl ihre Leidenschaft für literarisches Schreiben als auch eine so große wie tragische Liebe. Die Annalise-Wagner-Stiftung machte auf „Wo ist Ruth?“ aufmerksam im Zusammenhang mit der Vergabe des Annalise-Wagner-Preises 2017 an das Jugendbuch „Kinderzimmer“ der französischen Schriftstellerin Valentine Goby sowie anlässlich der Auszeichnung der Kinderbuch-Reihe „Robin vom See“ von Ulrich Fasshauer im Jahr 2022 mit dem Annalise-Wagner-Preis.

Anlässlich des 20. Internationalen Holocaust-Gedenktages 2025 lud der Förderverein der Regionalbibliothek, unterstützt von der Annalise-Wagner-Stiftung, am 21. Januar zu einer außergewöhnlichen Ausstellungseröffnung ein: Gemeinsam hörten zahlreiche Besucherinnen und Besucher das Hörspiel „Wo ist Ruth“ von Erika Michel-Wagner, Erstsendung 1963, bewahrt von der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv. Unter den Sprecherinnen des Hörspiels sind bekannte Schauspielerinnen der DDR wie Ingrid Rentzsch, Ruth Kommerell oder Ingeborg Medschinski. Regie führte Ingeborg Milster, die mehr als 75 Kinderhörspiele für den Rundfunk der DDR inszenierte.

Ruths Geschichte und die Geschichten rund um dieses Jugendbuch helfen zu erinnern an die Shoah, helfen gegen das Vergessen, gehören zu den vielfarbigen Facetten demokratischer Erinnerungskultur. Wie gut, sie neu zu entdecken, gerade heute, in den Brüchen und in den Herausforderungen unserer Zeit. „Wir müssen unser Gedächtnis an die Geschichte wachhalten, denn ohne dieses Gedächtnis können wir unser Heute nicht begreifen.“ (Annalise Wagner (1903-1986), Stifterin des Annalise-Wagner-Preises)

[1] Rüdiger Steinlein: Brückenschläge über den „Abgrund der Vergangenheit“ (Erich Kästner) :Die Darstellung des Holocaust in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. – In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. – Erich Schmidt Verl., 2006. - S. 178

[2] Lothar Lang, 1976) : Künstlerinnen. - In: Das Magazin, März 1976, S. 53-58.