Unverdrossenheit, Umsicht, Elastizität

Vor zweieinhalb Monaten, am 16. März 2020, verließ das Stiftungsteam aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen das Polytechniker-Haus und stellte auf mobiles Arbeiten von zuhause um. In kürzester Zeit wurden die bereits vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten erweitert. Die Zusammenarbeit mit digitalen Mitteln war problemlos. Von da an blieb nur ein Krisenstab tageweise am Stiftungssitz präsent. Seit Mitte Mai kommen die ersten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in das Stiftungsgebäude zurück, selbstverständlich unter Wahrung strenger gesundheitlicher Regelungen, die mit dem Betriebsarzt und dem Arbeitsschutzbeauftragten der Stiftung abgestimmt sind.

Alle laufenden Projekte der Stiftung wurden, soweit es irgend ging, auf digitale Formate umgestellt, um gesundheitliche Risiken so weit wie möglich zu vermeiden. In einem ersten Lagebericht („Hoffnung ist schneller“) haben wir bereits beschrieben, wie durch rasch geschaffene digitale Angebote die verschiedenen Projekte der Stiftung weiterhin Nutzen entfalten konnten. Heute sind wir erfahrener, und auf dieser Grundlage stellen wir uns auf eine längere Zeit ein, in der besondere Bedingungen gelten; eine Zeit, in der unsere verschiedenen Projekte in den Bereichen Familienbildung, Sprachbildung, Hinführung zu Wissenschaft und Technik, kulturelle Bildung und Bürgerengagement gleichwohl so leistungsstark wie möglich wirken sollen – gerade jetzt. Und zwar gerade weil es schwierig ist und weil die Projekte jetzt besonders gebraucht werden! Wo und wie wir das tun, davon wollen wir hier schlaglichtartig berichten.

Bildungsbereich gefordert

Naturgemäß ist der Bildungsbereich der Stiftung stark gefordert: Viele Kinder und Jugendliche wie auch ganze Familien befanden sich in den vergangenen Monaten in einer besonders schwierigen Lage, was Bildungsversorgung und -begleitung betrifft. Fachleute warnten vor den Risiken zunehmender Leistungsspreizungen. Die nur in Teilen und mit Einschränkungen verlaufende Wiederaufnahme des Schulunterrichts entschärft die Lage zwar, aber bei weitem nicht vollends. Immer wieder wird daher der Ruf nach zusätzlichen Bildungsangeboten laut. Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft hat darum intensiv nach Möglichkeiten gesucht, entsprechende Förderungen gerade auch in dieser Zeit anzubieten. So wird der Deutschsommer, ein Sprachförderprogramm für Grundschulkinder mit Deutschförderbedarf, gleich zu Beginn der Schulferien, am 6. Juli 2020, stattfinden. In sorgfältigen Absprachen der Stiftung mit dem Hessischen Kultusministerium, dem Staatlichem Schulamt Frankfurt, dem Frankfurter Bildungsdezernat und mit Schulleitungen wurde ein zweiwöchiger Deutschsommer konzipiert, der alle nötigen gesundheitlichen Vorkehrungen berücksichtigt. Er wird diesmal rein innerstädtisch an Frankfurter Schulen stattfinden. Aber das Entscheidende ist: Er wird stattfinden. Auch überregional wird der Deutschsommer in diesem Jahr durchgeführt werden, vermutlich sogar an mehr Standorten als im letzten Jahr.

Im Diesterweg-Stipendium für Kinder und ihre Eltern, an dem in Frankfurt 32 Familien mit über 140 Personen teilnehmen, sind seit Wochen Mentorinnen und Mentoren im Einsatz, die per Video oder Telefon Unterstützung in insgesamt acht Schulfächern leisten. Dazu zählen auch Grammatiksprechstunden und ein Online-Englischkurs.  Das Projektteam bietet das wöchentliche Müttercafé als Video-Chat an. Auch Elternabende werden digital durchgeführt. So fand im Mai ein Elternabend zum Thema „zweite Fremdsprache“ statt, denn die Diesterweg-Kinder wechseln im August in die sechste Klasse. Regelmäßige Rundrufaktionen bei den Familien sorgen für verlässlichen Kontakt, der gerade jetzt so wichtig ist. In den Sommerferien wird ein digitaler Deutschkurs angeboten. „Wir haben den Anker ausgeworfen“, sagt die Projektleiterin Beate Moran, unterstreicht aber auch, dass sich die Diesterweg-Kinder als sehr anpassungsfähig erweisen. Im Anschlussprojekt Diesterweg plus, das vom Haus der Volksarbeit durchgeführt wird, konnten die beteiligten Eltern in einem Video-Chat kürzlich mit zwei hessischen Landtagsabgeordneten sprechen – das Gespräch war Teil des Kurses „Mein, dein, unser Deutschland“. Natürlich sollte es nicht ausfallen, und es fiel nicht aus. Man muss sich zu helfen wissen.

Im Projekt „Meine Zeitung – Frankfurter Schüler lesen die F.A.Z“ wurden trotz der zeitweiligen Schulschließungen insgesamt 70 Langzeitarbeiten eingereicht. Schülerinnen und Schüler können sich damit um einen der Preise bewerben, die im Rahmen des Projekts vergeben werden. Die Jugendlichen haben sich mit besonderer Akribie und Akkuratesse anspruchsvollen Themen gewidmet, diese in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Wochen recherchiert, kommentiert und oft auch beeindruckend in großen Konvoluten gestaltet, von der Börse über Gesundheitsskandale bis hin zur E-Mobilität. Durch sorgfältige Vorbereitung konnte die Jury-Sitzung online problemlos durchgeführt werden. Die Gewinner werden zwischen dem 15. und dem 30. Juni per Film mit Videobotschaften in den einzelnen Klassen verkündet.

Die Stiftung ist im Thema Rechtschreibung aktiv. Derzeit wird an einem digitalen Format zur Durchführung des großen Rechtschreibwettbewerbs „Deutschland schreibt!“ gearbeitet. Mit einem digital angebotenen Quiz auf der Projektwebsite hat die Stiftung bereits gute Erfahrungen gemacht. Und mit den „Spitzentextern“, einem Online-Angebot zum kollaborativen Arbeiten an Texten mit dem Ziel ihrer Verbesserung, liegt die Stiftung in Zusammenarbeit mit der Schillerschule ganz im Trend.

Von DigiTonnen und smarten Pillenboxen

Auch der Bereich Naturwissenschaften und Technik ist aktiv: Das Digitechnikum, eine Werkstatt für 25 jugendliche IT-Talente, darunter acht weibliche Teammitglieder, präsentierte sich am 7. Mai 2020 erstmals in einer Online-Pressekonferenz. Die Projektteams hatten eigene Filme erstellt, in denen die von ihnen entwickelten Prototypen gesellschaftlich nützlicher digitaler Produkte dargestellt und erläutert wurden, von der „Digitonne“ bis zur „Smarten Pillenbox“. Am 4. Mai 2020 erkundigte sich die Hessische Digitalministerin Prof. Dr. Kristina Sinemus per Video-Chat nach dem Stand des Projekts, auf das sie aufmerksam geworden war. „Das Digitechnikum ist ein positives Beispiel für Innovation, Technologie und Neugier – mit einer Interdisziplinarität, die in die Zukunft weist“, lobte die Ministerin.

Der von der Stiftung geförderte wissenschaftliche Spitzennachwuchs – die Main-Campus-Stipendiaten – haben aus eigener Kraft eine Vortragsreihe zur Corona-Krise entwickelt, in der die Interdisziplinarität des Stipendienprogramms kreativ und fachlich sinnvoll zum Tragen kommt. Wöchentlich trägt eine Stipendiatin oder ein Stipendiat aus dem jeweiligen Fachgebiet vor. Die Themen bisher: effiziente Corona-Testverfahren, Biochemische Grundlagen, Corona-Tracking, psychische Gesundheit, politische Systeme in der Corona-Krise und Umgang mit Seuchen in der Geschichte. Am 3. und 4. Juli 2020 wird unter sorgfältigen gesundheitlichen Sicherheitsvorkehrungen in kleinen Gruppen wieder ein erstes Seminar der Main-Campus-Akademie zum Thema „Logisches Argumentieren in der Wissenschaft“ in Glashütten stattfinden. Gleichzeitig läuft die Ausschreibung für die nächste Generation von Main-Campus-Stipendiaten an den öffentlichen Hochschulen Frankfurts.

Außerdem wird in einer Kooperation der Stiftungsbereiche Wissenschaft und Technik sowie Bürgerengagement derzeit ein neues operatives Projekt zum Thema Nachhaltigkeit vorbereitet, das im August 2020 beginnen wird.

Die Samstagschule für begabte Handwerker beginnt mit der Aufnahme der neuen Generation im kleinen Kreis Ende Juli und startet im August mit den ersten Seminaren. Die zehn jungen Handwerkerinnen und Handwerker freuen sich auf den schon ersehnten Programmstart.

Viva la Vida

Auch die Aktivitäten kultureller Bildung lassen nicht nach. So hat das Opernstudio am 9. Juni 2020 erstmals wieder eine Soirée angeboten, diesmal im Großen Saal für eine überschaubare Anzahl von Musikliebhabern, aber immerhin, es geht weiter. Und der Stiftungschor, in dem unter der kundigen Leitung von Lisa Ochsendorf, einer ehemaligen Stipendiatin, vor allem Alumni und Alumnae der Stiftung mitsingen, hat mit 39 Sängerinnen und Sängern aus ebenso vielen verschiedenen Privaträumen heraus den Song „Viva la vida“ von Coldplay eingesungen. Innerhalb weniger Tage wurde das Video knapp 2.000 mal aufgerufen. Die Herzen fliegen dem Chor zu. Die Hausband der Stiftung, genannt Plan Zehn, spielte zwei Eigenkompositionen ein: Ein Musiker nahm eine erste Spur auf, filmte dies per Handy und schickte die Spur an andere Bandmitglieder weiter, die eigene Spuren aufnahmen. So kann man heute musizieren, auch wenn man nicht physisch zusammenkommen kann. Das zeigt sich auch im Projekt Jazz und Improvisierte Musik in die Schule, welches derzeit Lehrerfortbildungen und Angebote für den Musikunterricht digital erarbeitet. Bei den Stadtteil-Historikern läuft noch bis zum 18. August die Ausschreibung für die nächste Staffel. In diesen Tagen wird eine gesonderte Homepage zu den ersten 50 Arbeiten der ehrenamtlichen Laien-Historiker freigeschaltet, sodass die Reichweite und Würdigung der Arbeiten deutlich erhöht werden. Am 13. Mai 2020 veranstaltete die Stiftung das jährliche „HausGespräch“ als Livestream zum Thema „Alles gut? Kommunikation im radikalen Wandel“. Eine Aufzeichnung des Gesprächs kann auf der Stiftungs-Homepage angesehen werden.

Bürgerengagement: vielfältig und ideenreich

Im Bereich Bürgerengagement wurden fast alle Treffen und Seminare in den Projekten Kolleg für junge Talente, Stadtteil-Botschafter und Bürgerakademie digital durchgeführt. Und es ging! Am 15. Mai 2020 referierte Kai Hüwelmeyer im Kolleg für junge Talente zum Thema „Verantwortung“. Grundlage war das anspruchsvolle Buch „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. Da über digitale Plattformen ja auch Gruppenarbeit möglich ist, konnten sich die Jugendlichen anschließend in Kleingruppen intensiv einzelnen Aspekten des Themas widmen, das zudem gerade gegenwärtig von besonderem Belang ist. Über die Sommerzeit werden die Jugendlichen Gelegenheit zu digitalen Begegnungen haben. Und ab September folgen noch inhaltliche Angebote zu den Themen Poetik, Künstliche Intelligenz und Kommunikation.

Die Stadtteil-Botschafter haben zu verschiedenen Mitteln gegriffen, um weiterhin aktiv sein zu können. Inzwischen haben sich digitale Stadtführungen bewährt; sie sind naturgemäß ein passendes Format für die jungen Botschafter. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen des laufenden Jahrgangs, aber auch vorheriger Jahrgänge, boten verschiedene digitale Führungen an, und zwar durchaus nicht nur zu Frankfurter Stadtteilen, sondern auch zu Städten, in denen sie zuletzt gewesen waren. Initiatorin war Asma Alam, Stadtteil-Botschafterin für das Gallus. So führte Carl-Philipp Spahlinger durch Jerusalem, wo er ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert hatte, und Jonny Bucka führte gar durch Brasilien, wo er ein Auslandsjahr verbracht hatte. Durch die Neue Frankfurter Altstadt führte Moritz Wagner, der bereits im vergangenen Jahr zusammen mit Vane Beglaryan den Bundespräsidenten und seine Gattin geführt hatte. Michelle Askari bot eine vielbesuchte digitale Führung über den Campus Bockenheim an. Und Olivia Hildebrandt organisierte in ihrem Projekt „HOME is where your neighbourHOOD is“ unter Wahrung gesundheitlicher Vorsichtsmaßnahmen einen „echten“ Spaziergang durch das „grüne Bornheim“: Gruppen aus maximal zwei Haushalten starteten zeitversetzt die „Tour zum Pflanzen“ durch Bornheim, auf der die Teilnehmer u. a. den Mitmach-Garten „DerGrüneDaumen“, die Wasserpark-Imker und den Permakulturgarten der “Gemüseheld/innen“ kennenlernen konnten. Rund 60 Personen verschiedenster Altersstufen nahmen an der Stadtteil-Rallye teil. Bis Mitte Juli läuft der Auswahlprozess des neuen Jahrgangs. Bewerbergespräche finden online statt, die Jugendlichen reichen dazu unter anderem selbstgedrehte Video-Portraits ein.

Bei den Bürger-Akademikern, die sich nur ein einziges Mal zum Auftakt Anfang März 2020 physisch begegnen konnten, laufen speziell konzipierte Fortbildungen sowie Begegnung und Austausch seither online. Gerade jetzt, da diese engagierten Ehrenamtler oft über die Maßen gefordert sind, sind Unterstützung, kollegiale Beratung und „Anliegenarbeit“ besonders wichtig. Auch die Alumni der Bürger-Akademie treffen sich auf digitalen Plattformen.

Alle Babylotsinnen wieder in den Kliniken

Im sozialen Bereich ist es erfreulich, vermelden zu können, dass inzwischen alle Babylotsinnen wieder in die sieben Frankfurter Geburtskliniken zurückkehren konnten, wo ihre Beratungstätigkeit gerade jetzt unentbehrlich ist. Ein Interview mit zwei Babylotsinnen finden Sie im News-Bereich. In den Willkommenstagen werden alle Kommunikationskanäle genutzt, insbesondere auch digitale Müttercafés.

Fördermanagement unterstützt Projekte Dritter

Über ihre eigenen operativen Projekte hinaus ist die Stiftung in der Förderung von Projekten Dritter aktiv. Seit Ausbruch der Krise wurden 25 Förderungen vergeben, z. B. für einen ehrenamtlichen Einkaufsservice und Telefonbesuchsdienst für ältere Menschen des Malteser Hilfsdienst in Frankfurt. In einer zweiten Runde in diesem Jahr wurden aus der Stadtgesellschaft heraus 32 Projekte in den Bereichen Bildung, Kultur und Soziales beantragt. Im Juli fallen die Entscheidungen. Auf diese Weise wird die Stiftung auch weiterhin andere Initiativen in der Stadt unterstützen.

Vermögensmanagement: wachsam und vorausschauend

All diese Aktivitäten müssen finanziert werden. Die Stiftung sieht sich dabei besonders hohen Volatilitäten an den verschiedenen Kapitalmärkten gegenüber, die so bisher nicht zu beobachten waren. Die breite Diversifikation des Vermögens erweist sich aber auch in dieser Krise - die nach den Krisen 2008 und 2011 die dritte seit Gründung der Stiftung ist - erneut als vorausschauend. Die Stiftung hat gut gewirtschaftet und kann ihre Projekte durchführen.

Umsicht, Voraussicht und Elastizität, aber auch Unverdrossenheit, bleiben das Gebot der Zeit.

Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt und Johann-Peter Krommer, 12. Juni 2020

Kontakt

Axel Braun

069-789 889-16

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