Ist die deutsche Stiftungswelt zu weiß?

Eine Studie belegt: Zu wenige Führungspositionen in Stiftungen sind mit Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ besetzt. Höchste Zeit, dass sich die Stiftungswelt mit ihren eigenen Macht- und Herrschaftsstrukturen auseinandersetzt.

Rassismus ist Teil unserer Gesellschaft. Er prägt Macht- und Herrschaftsverhältnisse und erzeugt eine Vielzahl an Diskriminierungsformen. Critical Whiteness Studies verfolgen den Ansatz, in Analyse und Diskurs um strukturellen Rassismus, weiße Privilegien aufzuzeigen und in ihrer Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Perspektiven von People of Color (PoC) und Black, Indigenous, People of Color (BIPoC) [1], ihre Sozialisierung und Erfahrungen mit der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik, sollen zugänglich gemacht werden und als Ausgangspunkt dienen, um das Paradigma Weiß-sein als Schlüsselkategorie von Rassismus aufzuzeigen und zu benennen. Wo steht die Stiftungswelt in dieser Auseinandersetzung?

Weiß-sein als unausgesprochene universelle Norm

Weiß-sein spielt für einen Teil der in der Bundesrepublik lebenden Menschen keine Rolle – nicht weil es keinen Einfluss auf ihr oder das Leben anderer hat, sondern weil es aus einer bestimmten, nämlich der weißen Perspektive, scheinbar unsichtbar ist. Weiß bedeutet ausgestattet mit Privilegien, die Strukturen erzeugen und reproduzieren, die immerfort Bilder eines weißen Deutschland mit vermeintlich „anderen“ schaffen. Was wir als Weiße als selbstverständlich wahrnehmen, ist ein Ergebnis von Ausbeutung, Unterdrückung und Diffamierung – das Bild einer Gesellschaft, in der Weiß-sein gleichgesetzt wird mit Deutschsein und alle Nicht-Weißen immer dann gezeigt und benannt werden, wenn bestimmte Bilder reproduziert werden sollen.

Kritische Weißseinsforschung

„Critical Whiteness“ ist ein politischer und wissenschaftlicher Ansatz, der versucht, die Unsichtbarkeit der Figur des Weißen aufzulösen, ihre Privilegien und Herrschaft aufzuzeigen, zu hinterfragen und schlussendlich zu dekonstruieren. So, wie es nicht DIE „Critical Whiteness Studies“ gibt, ist auch die Diskussion um Ursprung und Bedeutung des Ansatzes divers. So wird der Ursprung häufig im angloamerikanischen Raum, insbesondere in den USA gesucht, wo das Konzept der Critical Whiteness in unterschiedlichen akademischen Disziplinen angewandt wird, um rassistische Strukturen und Diskriminierung offenzulegen. Kritiker*innen weisen darauf hin, dass der Begriff der akademischen Industrie entspringt [2] und unter US-amerikanischen Aktivist*innen kaum eine Bedeutung hat. Hier werden in der antirassistischen Praxis unter anderem white privilege, white supremacy oder accountability (in etwa weiße Privilegien, weiße Vorherrschaft und Verantwortungsübernahme) verwendet.

In den 2000er Jahren wurde in der Bundesrepublik der Begriff der kritischen Weißseinsforschung stark gemacht, um den Diskurs expliziter in der deutschen Geschichte zu verorten. Peggy Piesche, schwarze, ostdeutsche Kultur- und Literaturwissenschaftlerin und Stiftungsrätin der Bewegungsstiftung zur begrifflichen Neuorientierung und Abwendung von der englischsprachigen Referenz: „Dahinter verbirgt sich die Vorannahme, dass wir uns mit etwas beschäftigen, das spannend, interessant und wichtig ist, was aber nicht auf unseren Kontext zutrifft. Man beschäftigte sich vor allem mit dem US-amerikanischen Raum. Allerdings wurde nicht wirklich verstanden, dass die dringendsten Aussagen und fundamentalen Zusammenhänge im Kritischen Weißsein – mit gewissen Einschränkungen – auch in der deutschen Gesellschaft verankert sind.“ [3]

Weiß-sein als Schlüsselkategorie von Rassismus

Rassismus will eine Herrschaft begründen, durch die Hierarchisierung von Menschen entlang phänotypischer, also äußerlicher Merkmale. [4] Die kritische Weißseinsforschung macht darauf aufmerksam, dass Weiße nicht ausgenommen sind von der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften durch ethnische Merkmale. Der entscheidende Unterschied? Weiße dürfen für sich entscheiden, sich dieser Zuschreibung zu entziehen und genießen doch Privilegien, die ihnen allein durch ihr Weißsein vorbehalten sind. Sarah Chander, afro-amerikanische Künstlerin: "Wir müssen die sozialen Unterschiede anerkennen, die uns zusammen mit der ethnischen Zugehörigkeit zugeschrieben werden. (…) Wir können nicht einfach hoffen, dass es diese Unterschiede nicht gibt, nur weil man nicht darüber spricht." [5]  Die Spitze des Eisberges sind rassistische Übergriffe. Der Unterbau ist ein über Jahrhunderte gewachsenes Netz an Identitäts-, Denk- und Handlungsmustern und kolonialen Kontinuitäten. Mechanismen, die ans Tageslicht befördert und ihrer Selbstverständlichkeit enthoben werden müssen, wollen wir Rassismus überwinden.

Die weiße Stiftungswelt der Bundesrepublik

„In Deutschland sind schwarze Menschen vor allem im Niedriglohnsektor überrepräsentiert. Das sei ein Beispiel für strukturellen und institutionellen Rassismus“, sagt Poliana Baumgarten, eine deutsche afro-brasilianische Filmemacherin. [5] Die Studie „Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership“ [6], hat 2014 die „kulturelle Vielfalt“ in 270 deutschen Stiftungen untersucht. Das Ergebnis zeigt deutlich: PoC und BiPoC sind in der bundesdeutschen Stiftungslandschaft stark unterrepräsentiert. Vier Prozent der Führungspositionen in den 30 größten Stiftungen sind mit PoC und Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ besetzt.

Die Studie weist auch darauf hin, dass Engagement und inhaltliche Positionierung der Stiftungen, die häufig auf eine Veränderung der Gesellschaft abzielen und die Geschichte einer diversen Bevölkerung erzählen, und die gelebte Praxis der Neubesetzung von Stellen weit voneinander abweichen. Die Rekrutierung von Führungspositionen folgt ausschließenden Mechanismen.

Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien

Für jede*n Einzelne*n bedeutet eine Auseinandersetzung mit den verinnerlichten, aber auch strukturellen Rassismen ein Hinterfragen der eigenen Privilegien, ebenso, wie die Reflexion der im Denken, Handeln und Sprechen immer wieder reproduzierten Ausübung von Macht und Gewalt. Diese Auseinandersetzung ist oft schmerzhaft. [7] Schon anzuerkennen, dass Rassismus nicht mit dem Ausbleiben nicht explizit rassistischer Sprache abgeschafft ist, bedarf eines langen Weges. Sobald der Begriff Rassismus fällt, ziehen sich viele in Abwehrhaltung und Unverständnis zurück. [8] Und die eigene Position zu hinterfragen, kann nur der erste Schritt sein. Was passiert mit den Privilegien, wenn wir sie und ihre fragwürdige Herkunft aufgezeigt haben?

„Die Sprache, die ich in den US-amerikanischen social-justice-Bewegungen erlernt habe, um über meine Rolle als weiße Person in der antirassistischen Arbeit zu sprechen, ist die Sprache der allies, der Verbündeten. Sie hören people of color zu und lernen von ihnen, über ihre eigenen Privilegien nachzudenken und Aktionen in verantwortungsvoller Weise gegenüber den Gemeinschaften of color zu unternehmen. Dafür ist die Reflexion der eigenen Privilegien (nicht nur in Bezug auf Rassismus, sondern in ihrer Gesamtheit, intersektional gesehen) zwar ein wesentlicher, jedoch nur ein Schritt. (…) Wenn die Reflexion über Privilegien nicht mit politischen Aktionen verbunden ist, ist das Ziel nicht mehr soziale Veränderung, sondern die Bildung und Aufrechterhaltung von "guten" Subjekten, die miteinander um den Status des_der "Reinsten" und von Herrschaft "Befreitesten" konkurrieren.“ [2]

Macht- und herrschaftskritische Auseinandersetzung in Stiftungen

Die Stiftungswelt muss sich mit ihren eigenen Macht- und Herrschaftsstrukturen auseinandersetzen. Dabei kann es im Bezug auf kritisches Weißsein nicht darum gehen, Perspektiven von PoC und BIPoC einzunehmen und den Diskurs als Weiße zu vereinnahmen. [2] Eine kritische Praxis muss die Perspektiven derer, die sie zu vertreten glaubt, sich selbst sicht- und hörbar machen lassen. Konkret bedeutet dies zum einen eine andere Praxis der Stellenbesetzung. Zum anderen müssen Fragen wie „Wer spricht für wen?“, „Welche Bilder reproduzieren wir?“, „Wessen Argumente und Gedanken wiederhole ich?“, „Wer hat welchen Einfluss in unseren Strukturen und welchen Teil der Gesellschaft bilden wir damit ab?“ uvm. immer wieder gestellt werden. Die Vergabeverfahren von Stiftungsgeldern müssen hinterfragt und gemeinsam mit PoC und BIPoC, Menschen mit Rassismus-, Migrations- und Fluchterfahrung überarbeitet werden. Gleichzeitig bedeutet eine konsequente Aufarbeitung auch ein Blick in die Geschichte und koloniale Kontinuitäten in der eigenen Stiftungsgeschichte – woher kommen die Gelder und Anlagevermögen? Wie sieht eine verantwortungsvolle Vergabe der Gelder aus und wer entscheidet darüber?

Machtkritischer Diversitätsprozess in der Bewegungsstiftung

Unter Einbeziehung der Stifter*innen, Angestellten, des Stiftungsrates und der geförderten Projekte macht die Bewegungsstiftung sich mit Hilfe einer externen Begleitung auf einen langen Lernweg, um einen macht- und herrschaftskritischen Diversitätsprozess zu beginnen. Eines der Ziele: In Haupt- und Ehrenamt, Stellen, Gremien und der Öffentlichkeit BIPoC die Zugänge zu erleichtern und zu ermöglichen. In dem Prozess treffen gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen auf unterschiedliche Positionierungen, aber auch Wissens- und Diskussionsstände innerhalb der Stiftungsgemeinschaft. In dem Prozess diskutiert werden unter anderem Zugangsbarrieren zum Antragsverfahren, zu Stellen und Gremien, sowie Förderkriterien, aber auch die Frage danach, wie wir als Stiftung gemeinsam Lernen und im Austausch bleiben können.

Weiße Vorherrschaft ist dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Dimension von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in unserer Gesellschaft. Die Unterdrückungsmechanismen in unserer Gesellschaft und damit auch der Stiftungswelt sind so vielfältig, wie der individuelle Stand der kritischen Auseinandersetzung jede*r Einzelnen. Es gilt, viel Geduld, Aufmerksamkeit, Zeit und sicher auch Geld zu mobilisieren, um in eine längst überfällige, intensive Auseinandersetzung einzusteigen - und konkrete Änderungen vorzunehmen.

Autorin: Maria Schmidt. Seit April 2021 Projektbegleiter*in in der Bewegungsstiftung. Die Autorin* positioniert sich selbst als weiße, queere und in Ostdeutschland sozialisierte Akademikerin* und Aktivistin*.

 

Quellen:

[1] www.migrationsrat.de/glossary
[2] www.migrazine.at/artikel/das-problem-mit-critical-whiteness
[3] https://anschlaege.at/kritisches-weissein-ist-eine-uberlebensstrategie
[4] www.bpb.de/apuz/antirassismus-2020/316756/mueckenstiche-mit-system-zum-umgang-mit-alltagsrassismus
[5] www.dw.com/de/wie-sieht-das-leben-f%C3%BCr-schwarze-menschen-in-deutschland-wirklich-aus/a-53545185
[6] https://vielfaltentscheidet.de/wp-content/uploads/2016/03/Final-Vielfalt-in-Striftungen_Stand-08_17.compressed.pdf
[7] https://rise-jugendkultur.de/artikel/kritisches-weisssein
[8] www.zdf.de/nachrichten/politik/tupoka-ogette-rassismuskritik-100.html

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Maria Schmidt

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