Repräsentation und Datenerhebung: Wer nicht gezählt wird, zählt nicht

Mehr als ein Viertel der Bevölkerung hat einen statistischen Migrationshintergrund. Und auch die Zukunft ist geprägt von Diversität: In Großstädten wie Frankfurt am Main, Stuttgart, Berlin oder München hat mehr als jedes zweite Kind einen statistischen Migrationshintergrund. Die herkunftsbezogene Diversität in der Bevölkerung muss jedoch sogar noch weiter gefasst werden: So leben in Deutschland zunehmend mehr Menschen mit familiären Bezügen beispielsweise nach Afrika und/oder Asien, die jedoch – weil sie bereits in der 3. oder 4. Generation hier leben – statistisch nicht als Personen mit Migrationshintergrund erfasst werden. Doch bis jetzt spiegelt sich diese Diversität weder in Leitungsfunktionen, noch im mittleren Management des deutschen Stiftungssektors wider. Das lässt zumindest ein Blick auf die Teamseiten vermuten. Für Großbritannien wurde die Homogenität der Entscheidungsteams bereits auf eindrucksvolle Weise durch The Color of Power gezeigt. Klar ist, durch fehlende Diversität fehlen nicht nur wichtige Stimmen, sondern auch Ideen und Potentiale am Entscheidungstisch.

Beim Thema Geschlechtergerechtigkeit ist für deutsche Stiftungen schon lange klar: Es braucht Führungskräftetrainings, Mentoringprogramme, Talentkorridore, finanzielle Ressourcen und auch Zielmarken und/oder Quoten, um Frauen in Führungspositionen zu bekommen. Die Grundlage für all diese Maßnahmen sind Daten, die den Status Quo festhalten (z. B.: über die Entwicklung des Frauenanteils in unterschiedlichen Lohngruppen) und zeigen, welche Fort- oder auch Rückschritte über die Zeit gemacht werden. Vor allem für formalisierte Organisationen gilt: Was statistisch nicht erfasst wird, kann auch keine Grundlage für strategische Führungsentscheidungen sein. Oder auch: Wer nicht erfasst wird, hat keine Priorität. Das gilt für alle Diversitäts- und Diskriminierungsdimensionen. Keine Daten = kein Problembewusstsein = keine Maßnahmen = keine Gleichstellung.

Multiperspektivischer Ansatz als Lösung

Dabei bietet die Erhebung von “Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten” die Möglichkeit den Stiftungssektor zukunftsfähig zu machen. Denn grundlegende gesellschaftliche Fragen können nur mit einem multiperspektivischen Ansatz angegangen und gelöst werden. Stiftungen mit Personal, welches die Diversität der Bevölkerung auf allen Ebenen repräsentiert, binden unterschiedliche Expertisen in Entscheidungsprozesse organisch ein und sind dadurch näher an gesellschaftspolitischen Realitäten und Notwendigkeiten.

Ein ehrlicher Blick auf die Stiftungslandschaft zeigt: Bisher verlief der Diskurs in Bezug auf herkunftsbezogene Diversität entlang der Themen “Willkommenskultur”, “Integration” sowie “interkultureller Dialog”. Die gesellschaftlichen Proteste nach dem Mord an George Floyd sind hingegen ein Anlass, auch hierzulande Themen wie alltäglichen, aber gerade auch strukturell verankerten Rassismus, die nicht hinreichende Bearbeitung der Kolonialgeschichte und ihrer Fortwirkungen bis heute und die Frage der Repräsentation von Schwarzen Menschen und Menschen of Color tiefergehend zu diskutieren. Es ist klar geworden, dass es transformativer Prozesse bedarf, hin zu einer Gesellschaft, in der struktureller Rassismus umfassend angesprochen, analysiert und auch prioritär bearbeitet wird. Die Erhebung von Daten, u. a. zu Erfahrungen rassistischer Diskriminierung, unter Führungskräften, Beschäftigten und (nicht-) geförderten Projektträger*innen bieten hier einen Diskussionsanlass für notwendige Entwicklungen. Dabei würde z. B. auch sichtbar, dass auch Menschen, die statistisch keinen Migrationshintergrund mehr haben, nach wie vor Diskriminierungserfahrungen machen. Auf dieser Grundlage kann darüber ins Gespräch gekommen werden, inwieweit Mechanismen institutioneller und rassistischer Diskriminierung wirken, ob derzeitige Personalrekrutierungsansätze noch zeitgemäß sind und wie die Transformation hin zu diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen Stiftungen gelingen kann. Der Zeitpunkt ist denkbar günstig, denn sowohl die EU-Förderprogramme, als auch die Bundespolitik greifen das Thema Datenerhebung auf und es gibt noch viel Platz um auch im Stiftungssektor mit gutem Beispiel voran zu gehen.

Empfehlungen: Wer kann was tun?

Zum Thema Datenerhebung:

  • Überlegen Sie sich, welche Daten über die Beschäftigten Ihrer Stiftung vorliegen, welche Diversitätsdimensionen fehlen und welche neuen Steuerungsmöglichkeiten Ihnen durch bessere Daten zur Verfügung stehen würden.
  • Setzen Sie sich mit den sieben Kernprinzipien zur Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten auseinander.
  • Zum Thema rassistische Diskriminierung und Empowerment
  • Lesen Sie die in Artikel 1 ICERD festgehaltene und in Deutschland rechtsverbindliche Definition rassistischer Diskriminierung. Welche nicht-intendierten Mechanismen tragen in Ihrer Stiftung zur Überrepräsentation weißer Menschen, v.a. auch in Führungspositionen, bei?
  • Überlegen Sie inwieweit Menschen BIPoC, also nicht-weiße Menschen, in Ihrer Stiftung spezifisch gefördert werden

Für Führungskräfte:

  • Denken Sie darüber nach, wie viele deutsche Stiftungen ihnen bekannt sind, die den Abbau von (strukturellem) Rassismus zum Ziel haben und umfassend finanziell fördern. Welche Verantwortungen zu Veränderung tragen Stiftungen Ihrer Einschätzung nach?
  • Wie divers sind Ihre Vertrauensnetzwerke und was können Sie tun, damit bei strategischen Entscheidungen neue Perspektiven handlungsleitend werden.
  • Beauftragen Sie eine Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in Ihrer Stiftung und lassen Sie sich anschließend bei einer diversitätsorientierten Organisationsentwicklung begleiten.

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Kontakt

Daniel Gyamerah

Citizens For Europe

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